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Valerie Lorenz-Szabo Wald Zum Bedenkjahr 1945-1995 In dem winzigen Raum gab es ein Bett an der Wand und meinen Koffer, aus dem Kleidungsstücke hervorquollen. Keinen Kasten, keinen Tisch, keinen Sessel. Ich stand am Fenster und sah in den kleinen Hof hinaus, auf dessen Steinboden die Sonne schien. Draußen war es ruhig. Weder Schüsse noch Explosionen waren zu hören. Ich hatte Zeit, Zeit zum Nachdenken, aber nicht die Ruhe, um Überlegungen anzustellen. Mit der Ankunft des kleinen deutschen Majors am Morgen hatte sich ein schwarzer Schatten über das ganze Haus gelegt. Dies spürten sogar die Kinder. Vor meiner Tür hörte ich die Stimme Elviras, meiner schönen Kusine, die ihre quengeligen Buben zu beruhigen versuchte. Die sonst so braven Kleinen, mit denen ich oft spielte, waren wie ausgewechselt, geradezu außer Rand und Band. Elvira lebte schon einige Monate im Stift. Pater Prior, der Onkel meiner Kusine, hatte ihr zwei Räume im Kloster zur Verfügung gestellt, da ihre Wohnung in der Stadt völlig ausgebombt worden war. Auf ihr Ersuchen gestand man mir hier einen kurzen Aufenthalt zu, und ich war glücklich, in dem schönen Haus ein paar Urlaubstage verbringen zu dürfen. Wieder einmal frische Luft zu atmen, auf einer Wiese liegen, durch den Wald laufen, gehörte zu den wunderbarsten Erlebnissen. Mit der Zeit lernte ich die Insassen des Klosters kennen: Den Herrn Prälat, einen hochgewachsenen, weißhaarigen Mann, der durch sein souveränes Wesen einen tiefen Eindruck auf mich machte. Auch die wenigen Mönche, die sich in der Abtei befanden, sahen in ihren weißen Kutten, mit dem schwarzen Skapulier darüber, stattlich und attraktiv aus. Ihre Ruhe und Gelassenheit tat mir nach der Hektik der Großstadt, den nächtlichen Bombardements, unsagbar wohl. Die Euphorie währte allerdings nicht lang. Am fünften Tag meines Hierseins war Major Draguscha in einem offenen Militärgeländewagen vom nahen Truppenübungsplatz in das Stift gekommen. Ein kleiner Mann, der so dick war, daß sein Uniformrock vorn über dem Bauch kaum zuging. In einem Halfter über der Schulter trug er eine Maschinenpistole. Niemand verläßt das Gebäude! war der erste Satz, den Draguscha den im Hof zusammengetrommelten Bewohnern des Klosters entgegenschleuderte. Das ist ein Befehl! Zu Ihrem Schutz, zu Ihrer Sicherheit. Die Gegend ist vermint! Wohl sind die feindlichen Horden im Vormarsch, doch das bedeutet nichts. Der Führer hat eine Waffe, die bald der Welt das Fürchten lehren wird. Da er für unbestimmte Zeit hierbleibe, brauche er ein Zimmer mit einem Vorraum und ein Telefon. Er forderte, daß man ihn in allen Belangen unterstütze, faselte von unbedingtem Gehorsam, den man von nun an ihm schulde. Und daß sich janiemand einfallen lasse, aus der Reihe zu tanzen. Wir sind im totalen Krieg, es heißt Order parieren. Nach seiner heruntergeschnarrten Rede erlaubte sich der Abt die Frage, von welcher Stelle diese Weisung käme. Der kleine Mann straffte sich, er wurde ein wenig größer, reichte aber dem Prälaten kaum bis zur Schulter. Geheime Reichssache! schnaubte er. Anordnung des Führerhauptquartiers. Nicht nur den Stiftsgeistlichen, die in kleinen Gruppen beisammenstanden und sich leise berieten, sah man die Betretenheit an. Keines der sonst so fröhlichen Küchenmädchen wagte es, die Augen aufzuschlagen. Vor allem aber die Evakuierten und die, die sich nur zufällig im Kloster aufhielten wie ich, waren wie gelähmt. Niemand getraute sich zu rühren. Unwillkürlich fiel mir das Märchen vom Dornröschen ein. Nur zu hoffen, dieser Zustand möge nicht auch 100 Jahre währen. Mag sein, daß die geistlichen Herren an diesem Tag kein Mittagessen bekamen. Gedrückt saßen die Evakuierten um den großen Tisch in der Tenne und verzehrten die Lebensmittel, die sie noch vor ihrer Flucht in die Rucksäcke gepackt hatten. Zu uns Zugereisten, die wir für gewöhnlich in dem kleinen Kabinett neben der Küche unsere Mahlzeiten einnahmen, war Schwester Ermintrudis gekommen, mit vielen Entschuldigungen, weil sie heute nur Butterbrote brachte. Durch die lange Rede des Majors hatte man das Fleisch nicht rechtzeitig zustellen können und auch die Kartoffel waren nicht weich geworden. Aber am Abend würde alles wieder so sein wie sonst, versicherte sie. Es ging mir nicht um die Mahlzeit. Die Worte Draguschas: ‚Niemand verläßt das Gebäude“, klangen noch als Fanal in meinen Ohren. Wir sind interniert! sagte ich mir. Wir sind eingeschlossen! In Schutzhaft! Ja, in Schutzhaft, das war das richtige Wort. Das bedeutete unter anderem, gefangen sein. Keine Waldspaziergänge mehr, keine Wanderungen, keine Ausflüge in die Gegend. Manche sahen den augenblicklichen Zu27