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seinen Türmen. Das Lager war Teil einer alten Kaserne aus dem Ersten Weltkrieg, deren Gebäude die Nazis mit allerlei germanischem Nibelungenzeug verziert hatten. Wir, die Sklaven, waren in Gebäuden untergebracht, in die man Etagenbetten hineingestellt hatte. Auf jeder Ebene des Bettes schliefen zwei Menschen. Das Besondere war, daß man schichtweise schlief, mit zwei anderen Arbeitern, die schliefen, wenn wir arbeiteten. Dieses System war natürlich für die Läuse ideal. Gearbeitet wurde in unterirdischen Tunnels, die als ein Teil der Hermann Göring-Werke galten. Wir stellten Kanonenteile für die Wehrmacht her. Das Essen und die Unterbringung waren besser als in Mauthausen. Wir bemerkten auch, daß die Nazis langsam durch ältere Wehrmachtsoldaten ersetzt wurden, deren Verhalten viel weniger brutal war. Es gab aber immer noch einen harten Kern von SS-Leuten, die bemüht waren, die Nazi-Terrortaktik aufrecht zu halten. In Melk war mir wieder einmal das Glück hold. Gleich am ersten Morgen auf dem Appellplatz erkannte mich ein SS-Mann, der mit uns in Rydultau gewesen war. Es war der schlesische, volksdeutsche SSMann, der inzwischen Sturmbannführer geworden war und mich seinerzeit im Suff so schwer in den Hintern getreten hatte. Ich weiß nicht warum, aber als ein paar Arbeiter für die Küche ausgesucht wurden, war ich unter den ersten. Vielleicht war es nur ein Zufall, aber für mich bedeutete er alles. Ich mußte nicht in den Fabrikstunnels mit ihrer schlechten Luft arbeiten, ich bekam eine Unterkunft im Hauptgebäude der Kaserne, da die Küchenmannschaft eine halbe Stunde vor allen anderen aufstehen mußte. Vom ersten Tag an mußte ich etwa um sechs Uhr morgens in eine geräumige Küche gehen, dort saß ich dann die ganze Zeit vor einem großen Zuber, der gewaschene Kartoffel enthielt, und schälte sie. Bis heute wundern sich meine Frau Alice und unsere Söhne Cary und Howard, wie schnell, sauber und fein ich eine Kartoffel schälen kann. Ich erinnere mich an das Lager in Melk auch deswegen so gut, weil ich das erste Mal begriff, daß es auch ein anderes Leben gab und nicht nur die Schrecken, die um uns waren. Es war Ende Februar oder Anfang März 1945, und ich trauerte immer noch um meinen abwesenden Bruder. Ich fühlte mich so einsam und allein. Ich wachte in der Nacht auf und weinte unaufhörlich. Ich fragte Gott nicht so sehr, warum er mir Moniek genommen hatte, sondern warum er mich nicht von all dem 32 Schrecken und der Hoffnungslosigkeit befreite. Doch Anfang März kam eine Gruppe von etwa sieben oder acht polnischen Burschen im Alter zwischen elf und fünfzehn Jahren in das Lager. Sie waren also etwa in meinem Alter. Sie stammten aus Warschau, sprachen nur Polnisch, und ich fand heraus, daß sie die Kinder „polnischer Intellektueller“ waren, deren Eltern von den Nazis verhaftet und in KZs geschickt oder umgebracht worden waren. Sie wußten eigentlich nicht, was mit ihnen geschehen war, oder sie hatten versprochen, über ihr Schicksal zu schweigen. Unbekannt blieb auch, warum man diese Jungen nach Melk gebracht hatte. Weil Polnisch meine Muttersprache war und wir viele Interessen wie Sport, Bücher und Filme gemeinsam hatten, freundeten wir uns bald an. Einige von den Burschen wurden ebenfalls zur Küchenarbeit eingeteilt. So wurde ich ein Teil ihrer Gruppe. Die meisten von ihnen waren klug und versuchten sich, soweit es ging, sauber zu halten und die Läuse zu bekämpfen. Sie sprachen ständig von der Zukunft Polens, eines Polens nach der Befreiung. Sonntags arbeiteten wir nicht, und da saßen wir auf einer Wiese, im Schatten des schönen Stifts, Kochten in einem alten Topf die gestohlenen Kartoffel und beobachteten die Luftkämpfe zwischen den alliierten und den deutschen Jagdflugzeugen, etwas, das man im Frühjahr des Jahres 1945 in Österreich sehr häufig sah. Für wen wir die Daumen drückten, braucht man nicht extra zu sagen. Die Anwesenheit dieser Gruppe polnischer Burschen half mir zu einem Zeitpunkt, als mir Moniek so sehr abging. Bei allen ihren Tätigkeiten machte ich mit und nahm an ihrem Leben im Lager teil. Ich wünschte, ich hätte mir ihre Namen gemerkt. Bald wurde ich einer ihrer Anführer. Aber in der Nacht schlief ich immer noch am jüdischen Ende der Baracke. Das Leben in Melk ging während des Frühjahrs ziemlich monoton weiter. Am schlimmsten war die Angst vor weiteren „selektionen“ durch Nazis, die fast jede Woche aus dem Hauptlager Mauthausen zu uns kamen. Jedes geringste Zeichen einer Erkrankung oder ein Gewichtsverlust — und man kam sofort auf einen Lastwagen, der zurück in das gefürchtete Hauptlager fuhr. Ich nehme an, daß mir die gestohlenen Kartoffel halfen, einigermaßen gesund zu bleiben. Das und die Tatsache, daß ich der schnellste Kartoffelschäler war, müssen den Ausschlag gegeben haben. Meine Kameraden, die täglich in die Tunnels und Bunker zur Arbeit gingen, waren weniger glücklich, und fast täglich verloren wir Leute durch die Selektionen. Sie wurden auf die kleinen WehrmachtLkws geladen und nach Mauthausen zurückgebracht. Im Frühjahr 1945 geschah in Melk etwas Ungewöhnliches. Ausländische Würdenträger, manche von ihnen in seltsamen Uniformen, kamen eines Morgens in das Lager. Alle trugen Armbinden, auf denen das Rote Kreuz deutlich sichtbar war. Für uns war das das erste Zeichen einer möglichen Befreiung. Es handelte sich um eine internationale Kommission des schwedischen und Schweizer Roten Kreuzes. Sie inspizierten das Lager und nahmen die Burschen aus Warschau mit. Offensichtlich hatten seinerzeit Ausländer, die die Verschleppung dieser Kinder beobachtet hatten (nachdem man schon deren Eltern deportiert hatte), den Deutschen Fragen gestellt, sich für diese Kinder eingesetzt und womöglich Bedingungen für deren Behandlung ausgehandelt. Wegen der sich verschlechternden militärischen Lage erklärten sich die Deutschen nun bereit, die Kinder aus Melk evakuieren zu lassen. Als sich im Lager herumsprochen hatte, daß das Rote Kreuz wegen der polnischen Burschen gekommen war, bildeten diese Burschen eine Delegation und schickten sie zu mir. Ich saß gerade in der Küche und schälte meine Kartoffel. Da ich Pole und einer ihrer Anführer sei, meinten sie, sollte ich mit ihnen mitgehen. Sie sagten, sie würden den Schweden sagen, ich gehörte zu ihnen. Ich sah, daß sie es ehrlich meinten. Sie waren sehr glücklich und blieben nicht lange. Ich mußte es mir überlegen und mußte mich rasch entscheiden. Sollte ich mitgehen? Ich mußte mich während der Nacht entscheiden, weil für den nächsten Tag die Abfahrt angesetzt war. Als ich in meinem Stockbett lag, sah ich mir meine langsam dahinsterbenden jüdischen Kameraden an. Sollte ich sie zurücklassen und in eine unbekannte Zukunft gehen? Ich dachte, Moniek könnte vielleicht noch am Leben sein und in einem benachbarten Lager arbeiten. Diese Vorstellung ging mir nicht aus dem Sinn. Sollte ich ein christlicher Pole werden und meinen jüdischen Ursprung verbergen? Da erinnerte ich mich an die Worte meiner geliebten Schwester Bronia, die sie einst, als wir gerade ins Ghetto übersiedelt waren, gesagt hatte: ,, Als Jude wurde er geboren und ein Jude soll er bleiben.“ Ich beschloß, in Melk bei meinen jüdischen Kameraden zu bleiben. Am nächsten Morgen winkte ich meinen polnischen Freunden zum Ab