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Vergangenheit stellen und über ihre Kindheit und Jugend in Wien und später in New York sachlich und detailliert erzählen. Die bedrückende Atmosphäre jener Zeit — bedrückend für die Verfolgten, während eine Schriftstellerin wie Gertrud Fussenegger sie als „Pfingstwunder“ erlebt haben will - , die Entrechtung, Erniedrigung, der Verlust der Heimat, der Freunde, der Muttersprache, die Identitätskrisen und schließlich das Schuldgefühl, überlebt zu haben, all das wird entsetzlich deutlich in der verhaltenen Sprache dieses Films. Die verbale Distanz zum Erlebten, die manchmal aufkommt, kann über, die wahre Befindlichkeit der Betroffenen nicht hinwegtäuschen. Die Spannung, die dadurch entsteht und den ganzen Film durchzieht, vermittelt mehr als das Erzählte selbst. Die von der Bevölkerung verhöhnten und bespuckten straßenwaschenden Juden, das Werk der Arisierer, die Delogierungen, Aufschriften wie „Für Hunde und Juden verboten“, das Warten auf ein Visum — das kennt man alles aus der Literatur, aus Spielfilmen und Geschichtsbüchern. Wenn es aber die Betroffenen selbst erzählen, ist es allemal etwas anderes. Der zweite Teil des Films beschreibt dann die ersten Jahre der Vertriebenen in Amerika und räumt mit der hierzulande immer noch weitverbreiteten Mär auf, die Geflüchteten hätten es sich „drüben in Amerika“ gutgehen lassen, während die (,‚arische“ ) österreichische Bevölkerung unter den Folgen von Krieg und Nachkrieg zu leiden hatte. Vladimir Vertlib Emigranten, N.Y. Die Geschichte einer Vertreibung. Österreich, 1994/95. Regie, Buch: Egon Humer. Recherche und Beratung: Amos Vogel. Kamera: Peter Roehsler. Produktion: Prisma Film Wien. Zwei Teile, 88 und 89 Minuten. Alexander und Theodor Im Gedenken an den vor 50 Jahren im New Yorker Exil verstorbenen R. R. Gibacht bei Marienbad, 11. August 1995. Soeben erhielt ich die mir aus Brünn in meinen Urlaubsort nachgesandte Post. Darunter eine Einladung vom Österreichischen Kulturinstitut zur einer Ausstellung. Diese findet, wie in der Einladung angeführt, in Drnovice, dem Geburtsort von Roda Roda, statt. Und zwar anläßlich des 50. Todestages des ,,Humoristen, Feuilletonisten, Dramatikers, Soldaten und Kriegsberichterstatters sowie unfreiwilligen Emigranten, des Mark Twain der Donaumonarchie, der in Wien, Budapest, Prag, Sofia, München und Berlin durch seine rote Weste einst ebenso berühmt war wie Charles Chaplin durch seine Schuhe“. Die Ausstellung hätte mich brennend interessiert. Sie beginnt jedoch schon in wenigen Stunden. Auch habe ich keine blasse Ahnung, um welches Drnovice es sich überhaupt handelt. Allein in meiner mährischen Heimat kenne ich gleich drei Dörfer jenes Namens, und zwar bei 40 Boskowitz (Boskovice), Ungarisch Brod (Uhersky Brod) und Wischau (VySkov). Ein Besuch der Ausstellung ist mir also nicht nur aus zeitlichen Gründen, sondern auch aus vollkommener Ortsunkenntnis unmöglich. Daß Roda Roda in einem Ort namens Drnovice geboren wurde, ist mir übrigens völlig neu. Bislang war ich der Meinung gewesen, er stamme irgendwo aus Slawonien. Gewiß hätte mir die Ausstellung eine Menge neuer Erkenntnissegebracht. Nun, es hat nicht sollen sein! Schade! Aber immerhin wurden durch die unverhofft erhaltene Einladung alte Erinnerungen wach. Der Name Roda Roda ist mir wohlbekannt. Nicht nur durch seine Werke und deren zahlreiche Verfilmungen, sondern auch aus den Erzählungen meines Vaters, der mit R.R. befreundet war. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts besuchte Roda Roda, der damals noch Alexander Rosenfeld hieß, ebenso wie mein Vater Theodor das Piaristengymnasium in der mährischen Stadt Kremsier (Kromeri2). Sie trägt auch die Bezeichnung „Mährisches Athen“. Dies dürfte die beiden Freunde damals allerdings kaum interessiert haben. Schülerinternate, wo sie unter einer gewissen Aufsicht gestanden wären, gab es damals nicht. Die Knaben wohnten in Privatquartieren und hatten stets allerlei Unsinn im Kopf. Machten Hauswirten und Lehrern das Leben oft schwer und sorgten immer wieder für die Belustigung der ganzen Stadt. Dies verwundert bei dem später weltberühmten Humoristen kaum. Aber auch mein Vater, der später Jurist wurde, bewahrte sich bis zu seinem Tod, er starb 1958, einen sprühenden Humor. Erwähnt sei, daß die Verbindung der beiden Jugendfreunde nie völlig abriß. Bis in Roda Rodas Münchner Tage und zu seiner durch Hitler erzwungenen Flucht nach den USA währte ein loser Kontakt zwischen den einstigen Kremsierer Kommilitonen. Hier eines jener von meinem Vater oft erzählten Kremsierer Histörchen: Die beiden Obergymnasiasten, Alexander und Theodor, schlenderten wieder einmal gut gelaunt und ohne bestimmtes Ziel über den menschenleeren Kremsierer Marktplatz. Die Hände in den Hosentaschen, die üblichen Kappen auf dem Kopf. Da bog plötzlich aus einer zum Gymnasium führenden Seitengasse eine Gestalt in den Platz, der mosaische Religionslehrer. In Kaftan und schwarzem Hut, mit langem Bart und Schläfenlocken. Die beiden Lausbuben nahmen zunächst eine straffe Haltung ein, um sich dann im Vorübergehen devot, unter Lüftung ihrer Kappen, mit den nicht zu überhörenden Worten ‚„‚Koscher ma Dina, Herr Judenrabbina!“ zu verneigen. Ob dieser Frechheit erbost, beantragte der Rabbiner bei einer unverzüglich einberufenen Professorenkonferenz eine strenge Bestrafung der beiden Übeltäter. Tatsächlich wurde die Höchststrafe verhängt. Ein Tag verschärfter Karzer bei Wasser und Brot am Tage des Kremsierer Sommerfestes. Karzer hin und her, das hätte den beiden Freunden nicht so viel ausgemacht. Irgendwie hätte man sich die Zeit schon vertrieben. Aber ausgerechnet am Tage des regelmäßig knapp vor Beginn der Sommerferien stattfindenden Festes! Das war schon bitter. Das von langer Hand vorbereitete Fest bildete einen gesellschaftlichen Höhepunkt des damaligen Lebens in Kremsier. Frauen und Mädchen überboten sich in der Zubereitung köstlichen Backwerks und anderer Leckerbissen. Und natürlich spielten die Herren Studenten des Piaristengymnasiums bei den Feierlichkeiten eine maßgebliche Rolle. Das alles sollte also für die beiden Strolche diesmal ins Wasser fallen. Am Vorabend jenes Festes sagte Alexander zu meinem Vater: „Du, Theodor, leih dir für morgen von deiner Hauswirtin eine Wäscheleine aus.“ Das tat mein Vater, ohne zu ahnen, was Alexander eigentlich vorhatte. Pünktlich fanden sich beide frühmorgens zu ihrer Karzerstrafe ein. Alexander hatte einen von seiner Wirtin geliehenen Henkelkorb mitgebracht. Sie bezogen das für den Karzer bestimmte Klassenzimmer im ersten Stockwerk. Von der Festwiese drang gedämpfte Blasmusik zu den einsamen Gefangenen. Ihre Stimmung war anfangs gedrückt. Aber bald fanden sich vor dem Gymnasium mitleidige Seelen ein. Und zwar von Alexander hierher bestellte Mädchen. Sie kamen nicht mit leeren Händen. Der Korb wurde an der Leine hinabgelassen und mit allerlei Köstlichkeiten wie Backhendeln, Schnitzeln, Würsten, Mährischen Kolatschen, Kuchen, Torten, Backwerk, Obst, Getränken und was immer es noch auf dergleichen Festen in Mähren gab, gefüllt und von den Sträflingen hochgezogen. Für das leibliche Wohl der Eingesperrten war also gesorgt. Und diese revanchierten sich ihrerseits für die milden Gaben. Es begann mit Gesichterschneiden, humorvollen Zwiegesprächen, ausgelassenen Sketche und entwickelte sich schließlich zu ausgesprochenen Kabarettvorführungen im Fenster des ersten Stockes. Der Platz vor dem Gymnasium wurde zu einer Art Außenstelle des Sommerfestes. Immer mehr Schaulustige fanden sich ein. Lachsalven erklangen. Alexander lieferte, unterstützt von meinem Vater, Proben seines Talents. Dabei wurden die ahnungslosen, auf der Festwiese weilenden Professoren samt Rabbiner tüchtig aufs Korn genommen. In einer Weise, die jenen „devoten“ Gruß, der die ganze Karzeraffäre bewirkt hatte, bei weitem übertraf. Am Abend, als alles vorbei war, kamen Alexander und Theodor samt ihrem Publikum überein, daß es eines der schönsten und unterhaltsamsten aller Sommerfeste gewesen war. Und noch nach Jahren erinnerte sich mein Vater, nie in seinem Leben so reichlich wie bei jenem mit Alexander verbrachten ‚‚Karzer bei Wasser und Brot“ gegessen und gelacht zu haben. Dora Müller Die Anekdote aus dem Jahre 1889 mag wahr sein. Aber es stellt sich die Frage, ob die Beköstigung der ihren Karzer absitzenden Schüler nicht eher aus Sympathie mit einem als antisemitisch gebilligten Bubenstreich erfolgte. — Man fühlt sich an Karl Kraus‘ Polemik gegen den „jüdischen Religionsunterricht“ (1899) erinnert, der der 14jdhrige Berthold Viertel in einem Leserbrief an die ,,Fackel“ zu widersprechen wagte. — Anmerkung der Red.