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Irene Neuwerth (1942-1945) Ich habe versucht, die ‚Geschichte des Widerstandes“ meines Mannes aufzuzeichnen. Dabei habe ich bewußt bis in die frühe Kindheit zurückgegriffen, um so auch einen Einblick in das damalige soziale Umfeld zu vermitteln. Möge sie auch dazu beitragen, daß die NACHGEBORENEN sich zu besinnen vermögen, wie wichtig es ist, in einer DEMOKRATIE zu leben und sie auch zu erhalten. Irene Neuwerth Man schrieb den 14. Juli 1942. Soeben war die Truppe der Gebirgspioniere von einer beschwerlichen Brückenbauübung in die Kaserne zurückgekehrt. Diese befand sich in Mittenwald in Oberbayern. Gegen seine sonstige Gewohnheit, die Soldaten wegtreten zu lassen, befahl der Kompaniechef dieses Mal ,,Achtung“, das bedeutete ,,strenge Aufstellung“. Der Befehl lautete weiter: ,, Pionier Otto N. vortreten“. Otto beschlich ein mulmiges Gefühl, als er dem Befehl Folge leistete. Hatte er doch erst vor kurzem erfahren, daß die Gestapo bei ihm daheim, in Wien, eine Hausdurchsuchung vorgenommen hatte. Schon vernahm er die Worte, die über den Kasernenhof hallten: „Im Namen des Deutschen Volkes sind Sie verhaftet!“ Karabiner, Schanzzeug und Koppel wurden ihm vom Hauptfeldwebel abgenommen. Nachdem die Kompanie abgetreten war, wurde er zu einer kurzen Einvernahme ins Büro des Kompaniechefs gebracht. Dort erfuhr er, daß die Verhaftung im Auftrag der Gestapo vorgenommen worden war. Anschließend kam er in eine Einzelzelle des Kasernenarrestes. Nun folgten Tage, die unendlich schienen. Tatsächlich waren es fünfundzwanzig. Nur die regelmäßig gebrachten Essensrationen unterbrachen die Monotonie des ungewohnten Zellenalltags. Otto, seit seiner frühen Jugend an Wander- und Schitouren gewöhnt, verkraftete diese Lage nur schwer. Er versuchte zurückzudenken, sich in seine Kindheit zu träumen. KINDHEIT und JUGEND Die früheste Erinnerung hat er an den Tod der Mutter. Er ist erst vier Jahre alt, als dies geschieht. Die Hausbesorgerwohnung im 30. dritten Wiener Gemeindebezirk liegt ebenerdig, kurz hinter dem großen Eingangstor. Es gibt nur eine Küche und ein Kabinett. Dort hausen die Eltern samt vier Kindern. Das elektrische Licht brennt den ganzen Tag. Die Wohnung ist feucht. Die Mutter stirbt an einer Gelenksentzündung, nachdem sie im Spital zusätzlich mit TBC infiziert worden ist. Auch er, Otto, ist ein kränkliches Kind, leidet jahrelang an versteckter Gelenksentzündung. Erst mit acht Jahren wird die Krankheit erkannt und nach dreimonatigem Aufenthalt im Mautner-Markhof-Kinderspital ausgeheilt. Meist hält er sich auf der Gasse auf. Es gibt wenig Verkehr. Läuft bis zur Weißgerberlände, wo noch die alte ‚‚Preßburgerbahn“ fährt. Der Vater, gelernter Schriftsetzer, arbeitet in der Staatsdruckerei. Nebenbei ist er Fürsorgerat, später auch Kinderfreundeobmann, ehrenamtlich. So lernt Otto schon früh die ,,Kinderfreundebewegung“ kennen. Es wird gebastelt 'ınd gewerkt für noch ärmere Kinder, wie der Vater betont. Als dieser aber — 46jahrig — der ,,Seipelsanierung“ zum Opfer fallt und zwangspensioniert wird, gerät auch seine Familie hart an die Armutsgrenze. Die Schulden für den langen Krankenhausaufenthalt der Mutter sind längst noch nicht beglichen und müssen bezahlt werden. Die älteren Brüder gehen in die Lehre. Lernen Installateur und Tischler. Doch kurz nach der Lehrzeit werden beide arbeitslos. Sie müssen sich jahrelang mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Die Schwester ist fünfzehn beim Tod der Mutter. Sie zieht den kleinen Otto auf und muß für den Haushalt sorgen. Es gibt viel eingebranntes Gemüse, Brot und Schmalz. Mit diesen Dingen kann sich die Familie wenigstens sattessen. Fleisch gibt es nur sonntags, doch das stört das Kind nicht. An neugekaufte Kleidung für ihn kann er sich nicht entsinnen. Mit sechzehn bekommt er seinen ersten Mantel. Otto erlebt die Not in unmittelbarer Nähe. Des Vaters Bruder lebt mit Frau und sieben Kindern im „Neugebäude“ in Simmering (ein früheres Maximilian Schloß in der Nähe des Zentralfriedhofs) als Hausbesorger. Er ist schon längere Zeit arbeitslos. Die kümmerlichen Einkünfte bessern sie sich auf, indem die älteren Kinder verwelkte Kränze aufbinden und den Bindedraht aufwickeln. Dieser wird geradegezogen, verkauft und wieder verwendet. Von den Gärtnern holen sie sich das welke Gemüse, von der nahegelegenen Brotfabrik das alte Brot. Niemals darf Otto etwas Eßbares annehmen. Immer hat er sein Reindl mit und bekommmt es von der Tante aufgewärmt. Trotzdem verlebt er dort glückliche, unbeschwerte Kindheitstage. Sie spielen aufder Gstetten, laufen den ganzen Sommer barfuB und haben relative Freiheit. Am Nachmittag muB er sich wieder auf den Weg machen, ungefahr sechs Kilometer bis in den dritten Bezirk. Insgesamt also zwölf. Es ist selbstverständlich, daß er zu Fuß geht. Otto Neuwerth in den frühen 30er Jahre Seine Gedanken werden unterbrochen. Ein Menagegeschirr wird in die Zelle geschoben. Gesprochen wird nichts. Otto ißt, ohne ganz in die Gegenwart zu finden. Schon ist er wieder zurückgekehrt. Er ist neun Jahre alt, sitzt im Kreis der „Roten Falken“. Findet dort Freunde, wandert und spielt. Verbringt eine wunderschöne, erlebnisreiche Zeit. Doch 1934 wird die Gruppe infolge des Parteiverbotes aufgelöst. Sie treffen sich aber weiterhin bei Ausflügen und auch zu Hause. Aus dieser Zeit hat er Freunde, mit denen er später in der Illegalität zusammenarbeiten wird. Er geht in die Schule, nicht gern, aber er lernt gut. Mit nur einem einzigen Zweier tritt er aus der Hauptschule aus. Ein paar Tage darauf beginnt er eine Lehre als Automechaniker bei der Firma Opel. Viel Zeit verbringt er bei den Naturfreunden, die illegal wohl weiterbestehen, aber unter anderen Namen. Es wurde ein neuer Verein angemeldet. Zuerst „‚Österreichischer Alpenbund“, nach 1938 ,,Gruppe Alpenland“. Er betätigt sich bei der Wassersportgruppe. Sie sammeln sich in der „Forelle“, im heutigen ASKÖ-Heim, in der Kuchelau. Otto erinnert sich, daß auch das Kinderfreundelied nach 1934 noch gesungen wur