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Traumcafe „Senorita, nun wird alles gut. Mexiko freut sich auf Sie.“ Mit diesen aufmunternden, freundlichen Worten iibergab der mexikanische Generalkonsul in Marseille, Gilbert Bosques, 1941 Lenka Reinerovä das rettende Visum, besorgt von den treuen Prager Freunden F.C. Weiskopf und Egon Erwin Kisch. Das Wiedersehen mit Mexiko 1993 anläßlich der internationalen Konferenz über die kulturelle Tätigkeit deutschsprachiger Emigranten in Mexiko, das Wiedersehen mit den Exilgefährten Walter und Lotte Janka, im Verschnitt mit ihrem Mexiko des Exils, beschließt den neuen Prosaband von Lenka Reinerovä. Antifaschistin, politisch Verfolgte, Insassin verschiedener Gefängnisse, Flüchtling, Exilantin. „In Mexiko habe ich geheiratet, ein Kind geboren“ und ein Stück Geborgenheit und Heimat gefunden. Heimat bedeutet immer auch Aufgaben, Freunde und gemeinsame Ziele, die in der Realität der tschechischen Nachkriegszeit wie ,,Glas und Porzellan“ zu zerbrechen drohten, vielleicht auch unter ein Schutzschild gestellt waren. Die ‚großen finsteren Zeiten“ verwischen zugleich die Konturen des Einzellebens; nicht allein die unerhörten Geschehnisse sind zu berichten, sondern motivisch geht es Reinerovä um die eingeprägten Zwischensphären von Einsamkeit, Glück und Angst. Ein poeti12° Marcus G. Patka Egon Erwin Kisch und das späte Erbe der Väter Nach einem seiner schönsten Bonmots soll Kisch auf die Frage, wie er all seine Weltreisen bewältigen konnte, geantwortet haben: „Ich stamme aus Prag, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich komme aus einem guten Haus... — irgendetwas davon hat mir immer geholfen.“ Nicht zwei, sondern mindestens vier Seelen wohnten in seiner Brust, die miteinander im Widerstreit lagen. Seit dem Erleben des Ersten Weltkriegs in der k.u.k.Uniform hatte der Gedanke des Pazifismus und als dessen politische Umsetzung der Internationalismus bzw. Kommunismus die Oberhoheit erlangt. Er blieb der Partei sein Leben lang treu, nur mit ihrem Gebot nach bedingungsloser Disziplin stand er auf Kriegsfuß. Denn mit gleichem Selbstverständnis konnte er sich in jüdischen oder bourgeoisen Kreisen bewegen, um sie voller Humor und Ironie mit seiner Weltanschauung zu infizieren und Bundesgenossen zu gewinnen. Kischs Familie hat einen mit Persönlichkeiten ihrer Zeit gespickten Stammbaum, der selbst den Autor der Buddenbrooks vor Neid erblassen ließe. Als Urvater kann sie den Hohen Rabbi Loew fiir sich reklamieren.' Schon in frühen Jahren lernte der 1885 geborene Egon die Mechanismen der Ausgrenzung kennen: In seiner Heimatstadt Prag verteidigte eine deutschsprachige Minderheit ihre Privilegien gegen die tschechische Majorität, zwischen den Mühlsteinen lebten die Juden. Sie hatten sich mehrheitlich den Deutschen assimiliert und bildeten mit Franz Kafka an der Spitze ihre künstlerische Elite. Zwar schlug Kisch in seiner Jugend etliche Mensuren, doch er sollte sich sehr bald davon distanzieren, und er gehörte zu den singulären Intellektuellen seiner Generation, die im August 1914 keine Sckundc nationalem Hurrapatriotismus verfallen sind. 1918 wurde er in Wien das Opfer einer antikommunistischen Hetzkampagne mit stark antisemitischen Tönen. Über das Judentum hat er sich theoretisch nie geäußert, doch für die Zeit nach dem Krieg läßt sich folgende H2‘.ung definieren: Es war ihm weder Makelnoch Auszeichnung, sondern Zufall der Geburt. Den Zionismus lehnte er als national-religiöse Bewegung ab, und die separate jüdische Arbeiterbewegung war für die Partei eine konkurrierende Fraktion. Ihm schwebte eine klassenlose Gesellschaft vor, in der nationale Unterschiede keine Rolle mehr spielen würden. Gleichzeitig konnte er die Leistung verschiedener Kulturen mit all ihren skurrilen Kuriositäten liebevoll-ironisch beschreiben, seien es Beduinen, australische Aborigines, Zapoteken, oder auch deutsche Rebellen und Revolutionäre. Kisch prangerte Kriegstreiber, Klassenjustiz und die Macht der Presse an, doch der Antisemitismus war bis 1933 nur selten sein Thema, vielmehr kritisierte er den Wunderglauben des Ostjudentums und sein Verharren in mittelalterlichen Strukturen. Es war Hans-Albert Walter, der in einem brillanten Essay die wahre Botschaft seiner Reportage „Dem Golem auf der Spur“ erkennbar machte: „‚Vertraut nicht auf Wunder, sucht nicht nach einem Golem, der Verbrechen ausspäht, die man euch fälschlich in die Schuhe schiebt; erkämpft euch eure Rettung wie [ ... ] die Arbeiter (und zusammen mit ihnen) — dann werdet ihr euch gegen den Pogrom schützen können.“ ? Vor der kulturell-historischen Leistung seiner Vorfahren hatte Kisch aber größten Respekt, so engagierte er sich dafür, den sagenumwobenen Prager Judenfriedhof unter Denkmalschutz zu stellen. In der Zusammenfassung von dessen jahrhundertealten Geschichte wird an die dort angeblich erlauschten „‚Protokolle der Weisen von Zion“ erinnert.” Kisch dokumentiert bzw. karikiert das gespannte Verhältnis zwischen Judentum und Christentum. Er widmet ihm Wunderrabbi-Anekdoten und eine glänzende Humoreske über die inneren Nöte des jüdischen Ministranten Jack Oplatka * Zum exemplarischen Fall wird in „Ex odio fidei“ ein Jesuitenprozeß aus dem 17. Jahrhundert, Kisch zeigt hier die Wurzeln des europäischen Antisemitismus im katholischen auf? . Vereinzelt wurden seine Reportagen auch von der jiddischen Presse übernommen, doch bisher konnten diese nicht umfassend bibliographiert werden. In allen Teilen der Welt suchte er Treffpunkte jüdischen Lebens, und fast überall entdeckte er Eifersüchteleien statt rettender Einheit. Selbst in der winzigen Gemeinde von Tunis konkurrierten zwei verfeindete Gruppen: ortsansässige Unterschicht und europäisch orientierte Oberschicht‘. Seine volle Sympathie gebührte hingegen dem ,,Café GréBenwahn“ in London, in dem der jiddischen Sprache und der anarchistischen Literatur gefrönt