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Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten; Ärzte, die Tag und Nacht bereit waren, Leidenden zu helfen; Menschen, die bemüht waren, die Wahrheit zu verbreiten und die Lage ihrer Mitmenschen zu verbessern; Gelehrte, die der Wissenschaft lebten; Künstler, die dem Leben Schönheit geben wollten; Kinder, die sich ihre Zukunft so wunderbar träumten ... alle Arten von Menschen, lebensfrohe und sentimentale, gute und schlechte, starke und schwache. Unübersehbar, unaufhörlich ist die Reihe. An den kalten Fratzen vorbei, wanken sie dem Ziele zu. Dort steht es, ein rauchender Bau. Alle wissen, was dieser Bau bedeutet, woraus der Rauch besteht, der aus dem Schlot aufsteigt. Es ist die Todesfabrik, sie fabriziert Leichen. Mit welchen Gedanken bewegt sich diese Armee der dem Mord Geweihten diesem Ziele zu? Keine Hoffnung mehr, keine Hoffnung mehr für sich, für ihre Kinder, für ihr Andenken, kaum Hoffnung mehr auf Rache, auf Bestrafung des Massenmords. Sie müssen sich in das Tor schieben, sie müssen sich entkleiden, sie müssen in die Kammer gehen, wo ein fürchterliches Gas sie erwürgt, verbrennt, auflöst. Aus dem Schlot steigt Rauch. Unübersehbar ist die Kolonne, sie zieht dahin, als hätte es nie eine Menschheit gegeben, niemals das Streben, mehr Brot, mehr Recht, mehr Wahrheit, mehr Gesundheit, mehr Weisheit, mehr Schönheit, mehr Liebe und mehr Glück in die Welt zu bringen. Als letzter trete ich weg vom Altar, zu dem ich mich vor einigen Stunden so gut gelaunt aufgemacht hatte.® Kisch erlebte die größte Katastrophe des jüdischen Volkes aus größtmöglicher geographischer Entfernung, dutzenfach gebrochen durch Zeitungsartikel und sich immer drohender verdichtenden Gerüchten, sodaß sich seine Phantasie das Geschehen immer grauenvoller ausmalte, verbunden mit brennender Sorge um Familie und Freunde und dem inneren Schuldgefühl entkommen zu sein, und bei allem Engagement immernoch zu wenig dagegen tun zu können. Sein abgrundtiefer Haß gegen den Nationalsozialismus spiegelt sich in folgendem Text: Massenmord an Millionen von Juden, weil sie Juden sind. „Die Juden sind schuld an unserem Unglück!“, so steht’s geschrieben. An welchem Unglück? [...] Die Juden sind ‚‚schuld“, weil sie keine Nazis sein können. Daher verdächtigt sie der Nazi, Menschen zu sein, wie er die ,,reinrassigen“ deutschen Demokraten, Katholiken, Protestanten, Sozialisten und Kommunisten, die er hinrichtet und totmartert, der gleichen Schuld verdächtigt.” Im März 1946 nach Prag zurückgekehtt, urteilte er über den hingerichteten SSReichsprotektor Karl Hermann Frank: ‚‚Dort oben hängt ein Mensch, der, wenn er je einer war, keiner mehr ist.“ * Was mußte Kisch erst über Adolf Eichmann gedacht haben, der Zufall wollte es, daß das Ehepaar Kisch in jenem Haus eine Bleibe fand, in dem der oberste Verwaltungs- und Vollzugsbeamte des Genozids währed des Kriegs gewohnt hatte. Noch lagen dessen persönliche Gegenstände des Alltags herum... Doch die Nachkriegswelt in der Tschechoslowakei barg noch schlimmere Überraschungen. So sehr Flüchtlinge zwischen 1933 und 1938 mit offenen Armen empfangen wurden, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag gesellte sich zur verständlichen Deutschenfeindlichkeit auch der Antisemitismus. Nur wenige Juden kehrten nach dem Krieg in ihre Heimat zurück, zudem entzündete sich der Antisemitismus an der Frage der Restitution des jüdischen Eigentums. Es kam erneut zu Terror und Gewalt, zu Pogromen und zur Schändung von Friedhöfen und Synagogen, welche von Richtern und Politikern nur selten verurteilt wurden. Schreiben konnte oder wollte Kisch darüber nicht, ebenso wie er auch den stalinistischen Antisemitismus verdrängte. Stattdessen nahm er am zaghaften Leben der jüdischen Gemeinde teil, einen Monat vor seinem Tod am 31. März 1948 wurde Kisch Ehrenvorsitzender der ,,Rada“ der Organisation nicht-orthodoxer Juden von Böhmen und Mähren“!. Ein Photo zeigt ihn beim Grab seines Großvaters auf dem Jüdischen Friedhof. Der kommunistischen Zeitung Kol Ha’am in Tel Aviv schickte er ein Photo mit solidarischen Grüßen“. Über Ruth Klingerovä versuchte er einen Einstieg in den entstehenden israelischen Buchmarkt*”, doch eine Übersetzung ins Hebräische war zu teuer und Deutsch war dort ebenso verpönt wie in der Tschechoslowakei. Ruth Klingerova war auch seine Kontaktperson zu Arnold Zweig am Mount Carmel, mit dem sich ein freundschaftlicher Briefwechsel entspann, 1930 waren sie noch scharfe Kontrahenten im ‚„‚Schutzverband Deutscher Schrifsteller“ gewesen. Gegenüber Leo Perutz sprach Kisch den Wunsch aus, endlich Palästi19 Ders.: Der kabbalistische Erzschelm. In: Ebd. GW 6. S. 94 20 Ders.: Schime Kosiner (Unhoscht) verkauft ein Grundstück. In: Ebd. GW 6. S 18-25. — Ders.: Lobing, pensionierter Redakteur. In: Ebd. GW 6. S. 18-25. — 21 Ders.: Die Messe des Jack Oplatka. op. cit. 22 Ders.: Auf der unteren Ostseite New Yorks oder die Rolle der Gelegenheit. (Typoskript) GW 6. S. 380. — Siehe auch: EEK: Israelitische Feiertage in New York. (Typoskript) GW 6. S. 432-437 23 Ders.: Böhmische Juden eines Jahrhunderts. In: (Typoskript) GW 6. 415-419 24 Ders.: Schwarzer Gottesdienst bei den Negerjuden von New York. GW 6. S. 407-408 25 Ebd. GW 6. S. 410 26 Ders.: Die werbende und bindende Kraft des Todes. In: (Manuskript). GW 6. 387 u. 390 27 Von Zur Mühlen, Patrick: Politisches Engagemant und jüdische Identität im lateinamerikanischen Exil. In: Schrader, Achim / Rengstorf, KarlHeinrich: Europäische Juden in Lateinamerika. St. Ingbert: Röhrig 1989 28 Merker, Paul: Hitlers Antisemitismus und wir. In: Freies Deutschland 1(Okt. 1942)12. S. 9-11 29 Vgl. KieBling, Wolfgang: ,, Wiedergutmachung am jüdischen Volke“. Paul Merkers politische Vorstellungen aus dem Jahr 1942 — 1945 und der MerkerProzeß des Jahres 1955. In: Exil 12(1992)2. S. 71. — Siehe auch: Ders.: Partner im ,, Narrenparadies“. Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker. Berlin: Dietz 1994 (Merker und Zuckermann blieben auch in der jungen DDR bei ihrer Überzeugung und gehörten bald zu jenen, die in Ungnade fielen.) 30 Pohle, Fritz: Das mexikanische Exil. Ein Beitrag zur Geschichte der politisch-kulturellen Emigration aus Deutschland 1937 — 1946. Stuttgart: Metzler 1986. S. 314 31 EEK: Widerstände. (Typoskript) GW 10. S. 185-187 32 Egon Erwin Kisch an Wieland Herzfelde — Mexico, D.F., 2.11.1942 Akademie der Künste zu Berlin 33 Kisch, Egon Erwin: Humboldt, politisch und privat. In: Freies Deutschland 1(Mai 1942)7 GW 10. S. 467-476. — Ders.: Humboldt und die Juden. In: Einheit - Young Czechoslovakia 3(1942)16. — Ders.: Humboldt und seine jüdischen Freunde. In: Aufbau, 26.1.1945. — Siehe auch: Ders.: Zwiegespräch Humboldts mit einem Nazi. In: Demokratische Post, 15.9.1944 34 Ders.: Die Bibel und Babel in der neuen Welt. In: (Typoskript im Nachlaß) GW 6. S. 393 u. 404. — Siehe auch: Ders.: Judios e Indios. In: Tribuna Israelita 1(1945)8. — Ders.: Similitudes entre la Religiön Biblica e India. In: Tribuna Israelita 1(1945)9 35 Ders.: Seltsames Museum des Herrn Tennenbaum. In: (Typoskript im Nachlaß) GW 6. S. 440 36 Ders.: Das Rätsel der jüdischen Indianer. In: (Typoskript im Nachlaß) GW 6. S. 424. — Die Reportage erschien auch in Argentinien: Ders.: Das Rätsel der jüdischen Indianer. In: Jüdische Wochenschau — Semana Israelita 3(1942)92 37 Ders.: Die Familie Carbajal. Carbajal der Ältere. In: (Typoskript im Nachlaß) GW 6. S. 446-447. — Siehe auch: Anonym: La Familia Carvajal. In: Tribuna Israelita 1(1945)3 17