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Gennadi Kagan Wie wird man Österreicher Instruktion für die alten und neuen Russen in Wien I Oh Du, mein ... russisches Österreich Österreich ist kein großes Land. Es ist eher ein mittelgroßes. Deshalb gibt es hier auch fast keine Bürokratie. Wo sie aber dennoch zarte Blüten treibt, ist sie eine sehr feine, eine sehr freundliche, entgegenkommende, wohlwollende und dem ihr Ausgelieferten durchaus zugetane Bürokratie, die sich geradezu rührend um den Neuankömmling bemüht. Er ist kaum angekommen in der Hauptstadt Wien, hat sich noch nicht einmal halbwegs eingelebt, da füllt sich sein Postkasten schon mit einer Unmenge von zuvorkommenden, um sein Wohlergehen bemühten amtlichen Schreiben vom für Radio, Fernsehen und Telefon zuständigen Postamt, von Institutionen, die die Lieferung von Gas, Strom und Heizung verwalten, und von anderen, nicht weniger unerläßlichen Ämtern und Behörden. Es sind überaus wirklichkeitsnahe Bürokratenseelen, die diese Schreiben verfassen, und sie besitzen ein ungemein feines Gespür für die Sensibilität und die Empfänglichkeit des unerfahrenen Neuankömmlings. So kitzeln und hofieren sie gewissermaßen dein Ehrgefühl, deinen Ehrgeiz, indem sie die vertrauenweckende Kontaktaufnahme mit dir mit der Aufzählung einer Reihe von wahrhaftehrerbietigen Anreden und deine Wenigkeitschmückenden Titeln beginnen. Sieh an, sagst du dir überrascht und befriedigt, hier wirst du endlich nach deinen Verdiensten beurteilt, hier versteht man von vornherein und auf den ersten Blick, mit welch einer ungewöhnlichen, einzigartigen, exzeptionellen und epochemachenden Persönlichkeit man es zu tun hat. Und nach jedem Satz, nach jedem Absatz des drei-, vier-, fünfseitigen Schreibens auf selbstverständlich vorzüglichem Papier wächst diese Überzeugung, konstatierst du mit Genugtuung: Hier weiß man genau, wie unritterlich, wie ungalant, unfein, taktlos und illoyal man dich in deinem ehemaligen, nun fernen Land behandelt hat. Hier möchte man alles dir dort zugefügte Unrecht wiedergutmachen, von Anfang an. Und dein Vertrauen wächst ins Unermeßliche. Mit Ungeduld liest du das freundliche Schreiben zuende, bis du an den letzten, deiner Herzschlag stocken lassenden Absatz kommst, der dir lapidar und nun ganz und gar nicht mehr ehrerbietig mitteilt, daß du bis zu einem bestimmten Termin einen gewissen Betrag zu zahlen hast. So vermittelt man dir von Beginn an das trügerische aber nichtsdestoweniger angenehme Gefühl, schon ein kleines bißchen Österreicher zu sein. IT Österreich ist noch immer ein Vielvölkerstaat. Das spürt man besonders in Wien und vor alem auf den Flohmärkten dort, deren größter, am Naschmarkt, mit der U-Bahnlinie 4, Station Kettenbrückengasse, bequem zu erreichen ist. Und es ist ein gänzlich anderer Flohmarkt als das dir ertraute Treiben im heimatlichen Rußland, das sich auf seinem Weg zur Freien Marktwirtschaft in eine Art totalen Basar verwandelt hat. Hier, an der romantischen und schönen blauen Donau, wie es in einem Straußwalzer so stimmungvoll heißt, ist alles wohlgeordneter, hat jeder Markt seinen ihm zugewiesenen Standort, den Naschmarkt eben oder den etwas illegaleren Mexikoplatz. Während dort die türkischen, amerikanischen, armenischen, griechischen, äthiopischen, bolivianischen Gemeinden in Wien ihre Kulturzentren in verschiedenen ehrwürdigen Palästen diverser äußerer Stadtbezirke, etwa dem 8., 19. oder 23., unterhalten, hat die russische Gemeinde mit dem Naschmarkt einen der zentralsten Plätze Wiens okkupiert, hinter vorgehaltener Hand auch ,,Sowjetische Sezession“ genannt. Dort verfügt sie in der dritten Reihe, die zwölfte Bude gleich rechts vom zentralen Eingang, über den üppigsten und modernsten Verkaufsstand des ganzen Flohmarktes. An diesem russischen Kulturzentrum kommt nahezu keiner der alten neuen Russen, die irgendwie nach Österreich gelangt sind, ohne ein zumindest kurzes Verharren vorbei: Übersetzer, ehemalige Bezirksparteifunktionäre und Ärzte aus Moskau und Sankt Petersburg, Branntweinbrenner und Viehzüchter aus Moldawien und dem Kaukasus, Ingenieure und Lehrer aus dem Ural, Archäologen und Goldsucher aus dem Hohen Norden, Fischer und Imker aus dem Fernen Osten und kleinere, mittlere und höhere Offiziere aller militärischen Gattungen der ehemaligen Sowjetarmee. Dieses russische Kulturzentrum, Gegenstand des Neides eines gewissen