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Verstreutes Vom 3. bis 30. Oktober 1996 wurde in der Volkshalle des Wiener Rathauses die Ausstellung ‚„‚Anne Frank, eine Geschichte für heute“ gezeigt. In der Einladung zu dieser Ausstellung findet sich ein kurzer Text, der vermutlich eine Verfasserin oder einen Verfasser hat, die oder der vielleicht noch einmal darüber nachdenken sollte. Der Text besteht aus drei Absätzen und sechs Sätzen, ist also eher sehr kurz. Nun der dritte Satz: Begriffe wie Entrechtung, Verfolgung, Flucht, Verstecken, Deportation und Mord werden anhand individueller Schicksale anschaulich vermittelt. Ich wünsche, daß das Licht der Aufklärung, das die Ausstellung hoffentlich verbreitet hat, auch der Verfasserin oder dem Verfasser dieses Satzes geleuchtet hätte. Der bürokratischen Bestialität der Formulierung war sie oder er sich nicht bewußt. Die Verfasserin oder der Verfasser findet es höchst praktisch, daß er mit Anne Frank und ihrer Familie „individuelle Schicksale“ an der Hand hat, an denen er seine Begriffe demonstrieren kann. Ihr oder ihm fehlt der elementarste Respekt vor den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns. Der anschließende vierte Satz lautet: Nationalismus und ‚Säuberungen“ sind auch Themen der Gegenwart, genauso wie Helfen und Zivilcourage. Ich halte die hier (durch das ,,auch‘) suggerierte Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Nationalismus für eine Verniedlichung des Nationalsozialismus, für einen Geschichtsrevisionismus ‘von links’. Wer den Satz genau liest, wird sich außerdem vielleicht fragen, wieso ‚Helfen und Zivilcourage“ genauso „Themen der Gegenwart“ sind wie ,,Sduberungen“. ,,Genauso“ können sie es wohl nicht sein. Und als „Ihema“ gilt der Verfasserin oder dem Verfasser ein Gemeinplatz, auf dem sich Krethi und Plethi gleichermaßen tummeln, Verbrecher und Wohltäter. Bemerkenswert ist, daß ‚Helfen und Zivilcourage“, die Tugenden eines nicht in die Sache hineingezogenen, anteilnehmenden oder zur Anteilnahme aufgeforderten Publikums, den Gegensatz zu ‚‚Nationalismus und ‘Säuberungen’“ bilden. Das vielgeschmähte ,, Widerstands-Paradigma“ scheint hier erfolgreich überwunden. Aber die Frage, ob wir uns damit begnügen können, die schmerzlichen Folgen einer Untat zu lindern, darf doch weiter gestellt werden? Tiefste Provinz, Gedankenlosigkeit der Wohlmeinenden. K.K. Schirinowski, denn hier hat die große slawophile Wiedervereinigung bereits stattgefunden, floriert immens, weil fast jeder Besucher aus dem nun fernen ehemaligen Land seinen merkantilen Beitrag leistet in Form von Ikonen, Uniformen, Marineoffiziersdolchen, Matroschkas und Samowaren, von Kaviar und Wodka, russischen Gemälden des 19. Jahrhunderts, Schaffellen, Lorgnons, alten und modernen russischen Uhren etcetera, etcetera. Jeder, ob Ukrainer, Moldawier, Kasache, Jude, Georgier, Jakute, Tschetschene oder Usbeke spricht hier Russisch. Und auch die Polen, Bulgaren und Rumänen, die hier, der guten alten Zeit des einstigen Großen Bruders gedenkend, ihren Beitrag zum Gedeihen des Wiener russischen Flohmarktes leisten, sprechen Russisch. Lediglich die alteingesessenen Wiener selbst beherrschen das Russische noch nicht, weshalb man sie auch noch ziemlich selten auf der Wiener ,,Sowjetischen Sezession“ antrifft. Das schmälert den Umsatz aber nicht sehr, da Wien auch eine Touristenstadt ist und Schweden, Deutsche, Franzosen, Japaner etc. sich dank dieser Flohmarktattraktion die beschwerliche Reise nach Rußland ersparen können. IH In Österreich und vornehmlich in Wien kommt man ohne Titel nicht aus. Ohne irgndeinen Titel ist man sozusagen nur ein halber Mensch bzw. ein halber Österreicher. So sind hier beinahe alle Menschen Doktoren oder Professoren. Dennoch empfinden diejenigen, die es nicht oder noch nicht sind, keineswegs Verdruß und sind durchaus nicht darob betrübt, wie man in den hier Beisel genannten Kneipen oder in den Biergärten im Prater feststellen kann. Dies ganz im Gegensatz etwa zu den Georgiern in der ehemaligen Sowjetunion, bei denen der Doktortitel eine beinahe noch essentiellere Bedeutung als in Österreich hatte, und die Familien es als Schande, als Abnormität betrachteten, wenn der Erstgeborene beim Erreichen seiner Volljährigkeit, also mit dem dreiunddreißigsten Lebensjahr, noch nicht den begehrten Doktortitel erlangt hatte. Gewöhnlich wurde dann dieser - nach den Worten des großen Stalin gescellschaftlicher Lapsus benannte — Umstand behoben, indem man den Bedauernswerten mit ausreichend Geld versehen rasch nach Moskau oder Leningrad verbannte, wo er diesen ärgerlichen Defekt an einer Universität oder Hochschule selbständig oder mit fremder Hilfe beseitigen konnte und so aus dem mißratenen Sprößling ein allseits anerkannter akademisch gebildeter Kaden und Aspirant für höhere und einträgliche Posten wurde. Nun ist aber das relativ kleine Österreich, wie bekannt, ein neutrales Land und warnoch nie eine Republik der Sowjetunion. Das aber ist für die gesamte Situation des Landes und seiner Bevölkerung und vor allem für die Erlangung eines Doktortitels von außerordentlichem Nachteil, eine hoffnungslose Lage sozusagen, wenn auch noch nicht ganz ernst. Die Lage könnte aber mit der Zeit eine ernste Wendung nehmen, denn für eine umfassende und totale Durchführung der so wichtigen Aufgabe, sämtliche Bürger des Landes mit einem Doktortitel zu versehen, ist Österreich einfach zu klein. So stellen sich einem, wie man gelegentlich aus den einschlägigen Medien erfahren kann, bereits schon beim Kauf eines Reifezeugnisses, hier Matura genannt, erhebliche Unannehmlichkeiten entgegen, nicht zu reden vom Kauf eines Diploms, das es einem erlaubt, sich mit dem Titel eines Doktors oder gar eines Professors zu dekorieren. Welcher Ausweg aus dieser verfahrenen Situation wäre da anzuraten? Ein erster Schritt könnte hier der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union sein. Der nächste und selbstverständlich weitaus sicherere Schritt wäre dann ein Anschluß an Rußland, mit dessen großzügiger Hilfe man angesichts der einschlägigen Erfahrung dortiger Spezialisten auf dem diffizilen Gebiet der Doktortitularisierung mühelos Tausende und Abertausende österreichischer operativ betiteln könnte. Dabei dürfte auch, wenngleich Dollar und D-Mark in Rußland beliebter sind als der Schilling, der nicht zu unterschätzende kontrastierende Valutaunterschied eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Man würde damit gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Es wäre sowohl den Österreichern geholfen als auch der russischen Titel-Mafia, ganz abgesehen von der im Hinblick auf ein großes Europa bislang noch gänzlich unzulänglichen Annäherung der beiden Völker, die auch auf diese Weise zu befördern wäre. So ein Titel könnte dann etwa lauten: Dr. p.c (pecuniensis causa) a la russe. IV In Osterreich spricht man sehr leise. Das kann man vor allem bei Menschen feststellen, die einander nicht kennen. Bekannte und Freunde hingegen verkehren in der Regel miteinander wie Puschkin in einer seiner beriihmten Novellen Dubrowski und Ma