OCR
Ernst Eisenmayer Ein Brief an österreichische Zeitungen Zu den in der Schweiz oder sonst wo liegenden Goldschätzen aus Nazihänden Wer kann mir raten? Ich habe im 77. Lebensjahr schon ein schlechtes Gedächtnis und es ist fast 57 Jahre her, seit ich meine Mutter zum letzten Mal sah. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob sie zwei oder drei Goldzähne hatte, die sie mit ihrem Leben in Auschwitz verlor. Ihr Zahnarzt ist wahrscheinlich auch dort umgekommen, und so kann man keine Beweise bringen. Unsere Familie hat damals alles verloren. Es waren weder Gold noch andere Schätze dabei; wir hatten in den dreißiger Jahren oft kaum genug zu essen. Und wie bekannt: Für fast nichts bekommt man nichts! Die Frage bleibt: Zwei oder drei Goldzähne? Bei Onkeln, Tanten, Cousins, Großeltern, die umkamen, gibt es weder Beweise noch Erinnerungen, da niemand übrig geblieben ist. Wer kann mir raten? Ist Entschädigung möglich? Ist Trost möglich? Sicher ist sicher Antwort des „Kurier“ an Ernst Eisenmayer ... das Vertrauen, das Sie in den KURIER setzen, ehrt mich, deshalb tut es mir doppelt leid, daß ich Sie enttäuschen muß. (...) Ich habe auch Ihren Fall ... gründlich geprüft, sehe aber leider keine Möglichkeit, wie ich Ihnen helfen könnte. Bitte, lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen, prüfen Sie vielmehr, ob es nichtnoch andere Wege gibt, doch noch zu einem konkreten Ergebnis zu kommen. Falls Sie wieder ein Problem haben, zögern Sie nicht, sich wieder an den KURIER zu wenden. Kommentar Ernst Eisenmayer Ich komme jedenfalls aus dem Staunen nicht heraus! Der „Kurier“ kommt hier zum Handkuf, weil er als einzige Zeitung wenigstens zu antworten versucht hat. — Red. 6 wieviel Geld in harter Währung du besitzt, wieviel Miete du monatlich aufbringen kannst und ob du vielleicht deine Wohnung in Moskau, Sankt Petersburg oder Kiew schon verkauft hast und das dafür erzielte Geld dort abrufbereit auf irgendeinem Konto zur Verfügung steht. Damit ist die Anamnese abgeschlossen, ohne lästiges Temperaturmessen, Blutprobeentnehmen, Röntgen oder Stuhluntersuchungen, gewissermaßen psychoanalytisch, ganz so also, wie man es in der Stadt des großen Propheten der Psychoanalyse aus der Berggasse erwarten darf. Deine Zweifel, ob der Arzt, den du gerade konsultierst, jemals von jenem anderen Wiener Arzt, dem Dr. Sigmund Freud, gehört hat, behältst du besser für dich. Nach der Feststellung der Anamnese werden dirnun zur Behebung deiner Beschwerden verschiedene therapeutische Varianten angeboten, die allesamt ein allmähliches, sukzessives „Sicheinleben“ in die westlichen Wohnverhältnisse zum Ziel haben. Eine häufige und beliebte, weil dem russischen Zuwanderer nicht unbekannte Variante, ist die Wohngemeinschaft: Der Sohn des Arztes ist Hauptmieter einer Zweizimmerwohnung. Als Untermieterin logiert bei ihm die Schwester der Frau des Bruders des Arztes, der zur Zeit noch in Taschkent ist. Diese Bruderfrau ist jedoch nicht allein, sondern hat ihre beiden Kinder und eine taschkenter Tante mitgebracht. Die Tante allerdings ist eine wahre Fundgrube, denn sie verfügt schon über westliche Erfahrung und hat drei Monate in Israel verbracht, bevor sie nach Wien übersiedelte, Hier kann man nun, wenn man Glück hat, vorerst einmal als zweiter Untermieter absteigen, bekommt die Küche zugewiesen, die nachts, wenn kein anderer sie benutzt, immerhin Platz für zweieinhalb Klappbetten bietet. Das spart Geld und vermittelt die Gewißheit, daß man nunmehr in Ruhe die nächsten Therapievorschläge abwarten kann. Der Vorteil, der sich dem Zuwanderer hier neben dem finanziellen bietet, liegt auf der Hand: Bis zum endgültigen Sicheinleben ist er, wie von Rußland her gewohnt, nie allein, ist alles gemeinsam, die Küche, die Badewanne, die Toilette und sogar das Schlafzimmer. Das ist die Therapievariante für die alten Russen. Für die schon etwas neueren Russen, für jene also, die schon über etwas mehr Geld verfügen, ist natürlich auch der sofortige Bezug einer Wohnung als Hauptmieter möglich, wofür dann selbstverständlich eine zwischen 40.000 und 200.000 Schilling variierende Ablösesumme zu zahlen ist. Die dritte Therapievariante nun bleibt den absolut und unbedingt neuen Russen vorbehalten. Bei dieser Variante wird die Frist des Sicheinlebens maximal reduziert. Geld ersetzt die fehlenden Sprachkenntnisse, die Kenntnis des Landes, der landesüblichen Sitten und Gebräuche und des Funktionierens der Bürokratie. Man kauft sich eine Eigentumswohnung und am besten gleich zwei oder drei stark reparaturbedürftige dazu, weil diese relativ billig zu haben sind und das Renovieren einer solchen Wohnung kein allzu großes Problem darstellt, denn billige Arbeitskräfte aus dem ganzen ehemaligen Ostblock, von den Polen bis zu den Vietnamesen, lassen sich ohne Mühe finden. So du zu diesen absolut und unbedingt neuen Russen gehörst und einige Wohnungen gekauft hast, beziehst du nicht die erstbeste davon sondern die beste. Selbstverständlich ist sie nagelneu und liegt in einem der vorteilhaftesten Bezirke Wiens. Von diesem Augenblick an bist du dann schon selbst ein sehr praktischer Arzt. Verschiedene Russen werden zu dir kommen und dich um Rat und Tat bitten. Du wirst dich erst einmal nach ihrem Befinden erkundigen, also nach ihren pekuniären Verhältnissen usw. und ihnen dann, gemäß der jeweiligen obengenannten Therapievarianten, eine der renovierten Wohnungen anbieten. Du wirst diese Wohnungen nun also selbst vemieten, in Gesellschaft deines ersten Beraters, des äußerst praktischen Arztes, und dergleichen bemerkenswerten Persönlichkeiten, im Cafe „Landmann“ sitzen, gemütlich ein Achtel Roten trinken, denn Wodka ziemt sich im Cafe ,, Landmann“ nicht, dir einen großen Braunen oder eine spezielle Melange bestellen, dazu einen Apfelstrudel, der natürlich warm sein muß, und du wirst plötzlich mit Erstaunen und Genugtuung feststellen, daß du zwar noch kein Österreicher, aber schon ein richtiger solventer Wiener Trottel bist, dem jedoch keineswegs alles wurscht ist, sondern lediglich die leidvollen Beschwerden seiner nach Wien zugewanderten ehemaligen Landsleute. VI Sprache Natürlich kommen nicht alle Russen sprachlich unvorbereitet nach Wien, und es gibt unter ihnen so manchen, der sich im voraus der Mühe unterzogen hat, die deutsche Sprache zu erlernen. Er hat es dann manchmal leichtr als die übrigen Russen. Manchmal. Denn erstens: Im Umgang mit dem sozusagen einfachen Volk wirst du immer ein