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zweimal besuchten wir meinen Onkel in London. Das war ziemlich schlimm, die Stadt wurde ständigbombardiert, undobwohldieLeuteeisern durchhielten, waren sie doch immer diesem Terror und den ganzen Unannehmlichkeitenausgesetzt.BewundernswerterweisebliebendieMenschen warmherzig und liebevoll. Sobald sich mein Vater vollständig von der Lungenentzündung erholt hatte, mußte er zum Röntgen und zum Gesundheitstest, bevor wirin die USA weiterreisen konnten. Juni 1940 — endlich fuhren wir in die Staaten — unser endgültiges Ziel. Wir fuhren von Liverpool auf einem Cunard-Schiff ab, in meinen Augen ein winziges Boot und ganz bestimmt kein Luxusschiff. Unsere erste Mahlzeit war traumhaft — die beste, die ich seit Monaten gegessen hatte. Ich verließ den Speisesaal und ging zu unserer Kabine und mußte mich sofort übergeben — das tat ich dann während der ganzen vierzehntägigen Reise (ohne Unterlaß). Ich bat meine Eltern, mich über Bord zu werfen. Am ersten Morgen, nachdem wir aus dem Hafen ausgelaufen waren, rief uns der Kapitän alle an Deck. Und wir sahen, daß sich um uns herum noch viele kleinere Boote befanden. Wir waren Teil eines Konvois in die Vereinigten Staaten. Der Kapitän erklärte uns, daß wir an Bord so viel Gold hätten, als man nur irgendwie aus England nach Halifax bringen konnte. Wir fuhren im Zickzackkurs über den Atlantik, um den U-Booten auszuweichen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich während dieser Reise nichts außer Ginger Ale zu mir genommen habe. Wir kamen in Halifax an und nahmen einen Greyhound-Bus nach New York; wir brauchten achtzehn Stunden, weil wir unterwegs so oft stehenbleiben mußten, damit ich mich übergeben konnte. Aus dem Englischen übersetzt von Magdalena Weber. Axel Weber Das Nichts und Nirgends der Angst Thema der neuen Heimatdichtung im Spätwerk Theodor Kramers „Das lange Sterben des Theodor K.“ könnte die imaginäre Überschrift der Rezeption des Exilwerkes Kramers sein. Bei seiner Abreise, so die verbreitete Ansicht, vergaß Kramer sein dichterisches Talent einzupacken, was England erreichte, ist ein gebrochener Mann und ein toter Dichter gewesen. Ich wage im folgenden den Versuch, eine andere Sicht auf Kramer vorzuschlagen. Dabei werden die zwischen April und August 1938 entstandenen Gedichte meinen Ausgangspunkt bilden. Ich möchte zeigen, daß in das Werk Kramers ein Thema einbricht, welches sein Schaffen nicht mehr verlassen wird und so herausfordernd ist, daß es auf poetischer Ebene zur Entwicklung von neuen Ausdrucksformen führen wird. Sowohl die Entwicklung des Gedankens wie auch die Entwicklung der poetischen Form kommen nicht zu einem Stillstand, sondern beschäftigen Kramer bis zu seinem Tod mit der Suche nach einer adäquaten Auflösung. Diese Entwicklung, die, ausgelöst durch das anbrechende Exil, Einfluß auf das ganze in England verfaßte Werk nimmt, betrachte ich als einen Hinweis darauf, das sogenannte Exilwerk Kramers als Spätwerk zu verstehen ist. Da eine Argumentation für die Kategorisierung als Spätwerk eine breitere Basis benötigt, als die hier evaluierte, möchte ich diese These undiskutiert lassen. Angst, gesteht Kramer uns mehrfach, hat ihn das ganze Leben begleitet. Welcher Art diese Angst ist, bekennt er in „Bitte an die Freunde“ ?: „daß ich dem Nichts nur widerstehen kann, / wenn ich die Angst vor ihm in Verse bann“. Also: Angst vor dem Nichts. Und er selbst offenbart uns seine erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht. Ob man als Kind eine besondere Verbundenheit zur Heimat hat? Das Kind kennt kaum etwas anderes als die Stadt, das Dorf, in dem es heranwächst. Vertrauter Weg zur Schule, der Park, der Spielplatz; am Samstag Besuch bei den Großeltern, eine andere, geheimnisvolle Wohnung, in der es sich doch ungeniert bewegen darf. Koscheres Essen, Schwindeleien der Eltern über das Einhalten der jüdischen Reinheitsgebote. So wird das Phänomen der Assimilation erfahren. Familienausflüge: Flurnamen, die nicht angeschrieben stehen, an die erinnert sich das Kind. Spaziergänge; ein Stolz auf die großen Plätze und die Prachtbauten. Nicht Münchens Hofbräuhaus zerreißt den inneren Faden, sondern Graz in seiner Erhebung, das Gedröhn am Heldenplatz in Wien. Jeder liebgewonnen Platz, jedes erinnerbare Glücksgefühl wird beim Vertriebenen mit einer ebenso starken negativen Erfahrung zugedeckt. Burgenland; Sommerferien, Freunde und Abenteur; und ein kleiner Ort namens Rechnitz. Der Platz, wo Heimat noch ihre Unschuld besitzt, ist nicht auszuloten. Der geographische Raum und die Zeit, in die man hineingeboren wird, haben immer schon ein Davor, das man bewußt oder unbewußt aufnimmt und das von einem Besitz ergreift. Berthold Viertel spricht von einer Topographie der Heimat: Orte der Vergangenheit und der Suche nach dem bestimmbaren Ursprung, nach Einheit. Ein schizophrener Seelenzustand: ,,Heimat ist, wo er zuerst — schon als Kind — gelogen hat. Heimat ist, wo ihm die Lüge oder sagen wir nochmals: die Illusion — mit der Muttermilch eingeflößt, mit den Ammenmärchen eingeflüstert wurde.“ (Berthold Viertel: Kindheit eines Cherub. Wien 1991, S.269). Im Begriff der Heimat wird die Treue beschworen, während der Faden des äußeren und inneren Zusammenhanges verloren scheint. Die Erinnerung begleitet jeden Menschen als eine mit ihm wandernde Dimension. Für Franz Grillparzer in „Ein Traum ein Leben“ ein luxuriöser Anspruch: „Eines nur ist Glück hiernieden/ Eins: des Innern stiller Frieden/ Und die schuldbefreite Brust.“ Die Heimat der in Wien heranwachsenden Daisy Davidow-Bermann ist das Zuhause, die Familie, die Umgebung und wird zum Ort des Verzichtes. Die Familie fällt den Nürnberger-Rassegesetzen zum Opfer; das Recht auf Heimat gibt es für sie nicht mehr. Von einem geheimnisvollen Zwielicht spricht Ruth Tassoni, einem Zwielicht, „‚das Einzelheiten nur deutlicher und unvergeßlicher macht, da sie unter ganz bestimmten Umständen von Angst und Hast sich ins Gedächtnis geprägt haben.“ Die Bilder von Daisy Davidow-Berman leuchten von Innen, tragen ihr Maß in sich, in dem, was sie an Verlust und vergeblicher Liebe kenntlich machen. Wenn alle Schuld kenntlich ist, bedarf es keiner moralischen Abhandlung mehr. (Gekürzte Fassung des Vortrages für die Eröffnung der Ausstellung von Daisy Davidow-Berman im Literaturhaus Mattersburg.) 15