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Primus-Heinz Kucher Theodor Kramers ‚‚Spätes Lied“ Auf die Sichtbarmachung der „Faszination der Dialektik von Reife und Verfall“, so der Kramer-Kenner und Nachlaßverwalter E. Chvojka im Nachwort, ist der vorliegende, elegant gehaltene und sorgfältig gesetzte Gedichtband ausgerichtet. Die 110 Gedichte, davon 36 bislang unveröffentlicht, kreisen in der Tat um die Leitthemen ,,verrinnende Zeit“ einerseits, ‘Herbst’ andrerseits, die in landschaftlichen, jahreszeitlichen und existentiell-biologischen Verwandlungen, in genauen Beobachtungen und Wahrnehmungen, Gestaltung und Verdichtung erfahren. Selbst fiir Kramer-Leser ist es verbliiffend, wie oft, mit welcher Eindringlichkeit, freilich auch mit welch kalkulierter Routine sich der Dichter dieser atmosphirisch-zeitlichen Rahmung bedient. Eine Rahmung, die unter konventionellen formalen Fassaden aus scheinbar unauffälligen Bildern heraus weit komplexere Landschaften zu entfalten imstande ist. So versammeln die Gedichte trotz ihrer thematischen Festlegung eine weit über den Klappentext hinausgehende Modulationsbreite Kramerscher Poesie; vor allem die Sprechweisen, die Form der Organisierung des sprachlichen Materials und die subtilen Dissonanzen ermöglichen jene Anverwandlungen von Wirklichkeit, die den Momentaufnahmen erst ihre spezifische Zeithaltigkeit geben. Kramers lyrisches Ich ist sehendes Auge, zeigende Hand, (zu)hörende Stimme, es versetzt sich immer wieder in Gegenstände, die es zum Sprechen bringt - und es ist, selbst dort wo es an den Rand tritt, ein Ich, das die conditio humana nie aus den Augen verliert. Den Farben des Herbstes und den leisen Verwandlungen der Natur sowie dem unerbittlichen Rinnen der Zeit sind die Mehrzahl der Gedichte gewidmet. Und doch finden sich neben den vielen atmosphärisch-landschaftlichen Aufnahmen, neben Iyrischen Stilleben wie z.B. Der Herbst schlägt die Trommel der Schwermut (68) oder Wein-Nebel (78), auch solche, denen existentielle Reflexionen und lebensgeschichtliche Erfahrungen eingeschrieben sind. Das Eröffnungsgedicht Spätes Lied z.B. baut in seinen zeitlos wirkenden Versen vom ‚Fraß im Gemäuer“, vom „sinkenden Feuer“ oder von der gähnenden nächtlichen Leere die Brücken zu einer Schlußstrophe, die vielleicht die bedrückendste und irritierendste Wahrheit seiner Exilerfahrung offen ausspricht: das in Vergessenheit Geraten und das Desinteresse seines Landes am Werk und an der Person ihres Sängers. Da “nun das Exil zur existentiellen Herbsterfahrung des Autors schlechthin zählt, wäre es vielleicht angebracht gewesen, aus dem England-Zyklus das eine oder andere Gedicht mitaufzunehmen: Und der Abend ist lang (GG,I1,169) oder Regents Park (II,216), . um nur zwei Beispiele zu nennen. In zahlreichen Gedichten spürt Kramer, wie Chvojka anmerkt, den „‚kaum merklichen Veränderungen“ nach, den bedeutungsreichen Eintrübungen an und unter der Oberfläche, den vielfachen zyklisch und nichtzyklisch bedingten Einfärbungen. Es kommt mir jetzt so viel zurück (29) zeichnet etwa die Gegenbewegung zwischen Jugend und Alter nach, die sich aus der Überblendung von belebender Erinnerung, Selbstzusprache und illusionsarmem Abwägen realer Möglichkeiten einstellt. Bei manchen Gedichten stellt sich freilich auch die Frage, ob es für die Anthologie nicht von Nutzen gewesen wäre, auf sie zu verzichten. Das gilt vor allem für die Gruppe der z.T. larmoyanten Gedichte über die , Alten“, nicht der Themen oder Figuren wegen, sondern schlicht deshalb, weil einzelne wie z.B. Von Fiinfzig bis Sechzig (35) schlecht, im erwähnten Fall auch unerträglich sind. 22 Was läßt sich schließlich über die im Band erstmals veröffentlichten Gedichte sagen? Zunächst einmal, daß es zu begrüßen ist, sie hiermit vor uns zu haben, dann, daß sie von der Datierung her (vowiegend 1928 bis 1936) zur klassischen“ Periode im Schaffen Kramers zählen — und, daß manche von ihnen an den besonderen Reiz des Drehorgelklangs anschließen, Herbstgleiche z.B., in dem Vokalismus und Rhythmus in eine überaus gelungene Konsonanz einfließen oder Weinland im Herbstwind (79). Was neben kompositorischer Begabung auch die Fähigkeit voraussetzt, Stimmung erzeugen zu können. Es war immerhin Brecht, der in Lyrik und Logik vom Gedicht nicht ohne Grund verlangt hat, daß es „‚den Leser mit seiner Stimmung infizieren muß“. Unter den unveröffentlichen finden sich in der Tat einige, auf die das zutrifft: In Im Herbstacker (16) etwa, den Kramer nicht nur zum Zeugen sich eintrübender Senken macht, entsteht sie aus der gleichermaßen bildlichen wie konkret sich realisierenden intimen Verschmelzung von Mensch und Natur in der Ansprache an ein Du“...Im Acker laß uns rasten/ und leg um mich den Army/ die Strünke, die wir tasten,/ glühn angehackt und warm./ Schon gehn die Fliegen sterben/ im Blattwerk mit Gesummj/ ich pflüg in tiefen Kerben/ den Schoß dir um und um...“ Von sprödem und doch sanftem Reiz ist wiederum Nur zwei, drei Viertel Wein getragen, das nebenher von einer tiefen Beziehung im grauen Alltag erzählt, von einem ohne Sprache auskommenden Miteinander (47). So sehr wir dem Herausgeber danken müssen, daß er diesen Band zustandegebracht hat in Zeiten, die für Lyrik nicht günstige sind, so sehr müssen wir uns fragen, ob diese elegante Form anthologischer Leckerbissen nicht auch die Gefahr birgt, den ganzen Kramer, der ja weit widerständiger und reicher in seiner vorgeblichen Monotonie ist, aus den Augen zu verlieren. Für die Kramerforschung, aber auch für eine breitere Rezeption — ich bitte um Nachsicht, wenn hier germanistischer Diinkel durchschlagt — ware eher, ja primär vonnöten, die Gesammelten Gedichte als Taschenbuchausgabe neu zu edieren, sorgfältig zu kommentieren und — systematisch um den einen oder anderen Band mit Gedichten aus dem Nachlaß, auch mit Entwürfen und Verworfenem, werkgenetischen Prozessen also, zu bereichern. Dies umso mehr, als G. Kaiser in seiner beeindrukenden Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart (1991, 3 Bde, Suhrkamp) Kramer einen eigenen Abschnitt gewidmet und damit dem Werk das wichtige Terrain der bundesdeutschen Germanistik aufgeschlossen hat. Es stünde dem Europaverlag und seinen neuen Eigentümern gut an, Kramer gegenüber diese Schuld abzutragen. Theodor Kramer: Spätes Lied. Gedichte. Hg. von Erwin Chvojka. München, Wien: Europaverlag 1996. 128 S. ÖS 198.