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Josef Wermann Zweiter Teil „Glück gehabt“, sagt man so oft leichthin von sich selbst oder von anderen. Glück gehabt? Inwiefern? Die Frage bleibt offen, das Leben ist kein Würfelspiel. Beginn und Ablauf jedes Kapitels, auch des kleinsten unseres Lebens, ist stets mit dem Zusammenwirken von zwei Komponenten verquickt. Der rationalen Komponente des Handelns, der irrationalen des Geschehens. Gelingen oder Mißlingen, einer Gefahr begegnen, einer Gefahr entrinnen, stets sind beide Komponenten im Spiel. Ihr relativer Anteil läßt sich nur von Fall zu Fall und da nur höchst ungenau bestimmen. Nach mathematischer Präzision zu streben wäre vergeblich, denn hier erreichen wir jene Zone der Ungewißheit, die zum Wesen der menschlichen Existenz gehört. II. Paris Er hieß Renaud. Sein Aussehen entsprach in keiner Weise dem geläufigen Bild, das man sich von einem Franzosen macht. Mit seinem hellen Teint, seinem scharf geschnittenen Profil und den kühl-grauen Augen erinnerte er eher an einen feingliedrigen Skandinavier. Und doch war er ein waschechter Pariser. Und er verdient seinen Platz an der Spitze dieses Berichts, weil ohne seine Hilfe die Pariser Odyssee unter Umständen ein vorzeitiges Ende gefunden hätte. Begonnen hatte die Odyssee schon in den frühen Morgenstunden, als er mit einigermaßen klopfendem Herzen die Sperre des Pariser Bahnhofs Montparnasse passierte, mit dem hoffnungslos kompromittierenden Koffer in der Hand, der seine vor wenigen Stunden abgelegte Uniform enthielt. Zum Glück war wenige Minuten vom Bahnhof entfernt das berühmte Cafe „La Coupole“, das seinen Besuchern unter anderem auch eine Art von Garderobe zur Verfügung stellte, in der man nicht nur Kleider, sondern auch Gepäckstücke gegen Entgelt hinterlassen konnte. Mit der Abstellung des Koffers hatte er den ersten Punkt seines wohlüberlegten Tagesprogrammes erledigt. Erleichtert, und nach einer kleinen Früh32 stückspause mit Cafe, Croissants und Zigarette, hatte er sich auf den Weg ins nahegelegene Quartier Latin gemacht, wo der eine der beiden Freunde, die Pesce ihm genannt hatte, Gipsabgüsse berühmter Kunstwerke zum Verkauf anbot. Die Auslage seines Ladens bewies, daß er diesen Beruf mit viel Sachkenntnis und Geschmack betrieb. Aber man war nicht bereit, einem Deserteur der deutschen Armee Unterschlupf zu gewähren. Etwas verzagt begab er sich auf die Suche nach dem zweiten Mann, den Pesce ihm genannt hatte, und dieser zweite Mann war Renaud. Die Rue des Boulets ist eine jener Vorstadtstraßen, die den Außenbezirken im Osten der Stadt ihr, wenn nicht ärmliches, so doch bescheidenes Aussehen verleihen, auch wenn in ihrer unmittelbaren Nähe ein breiter Boulevard großbürgerliche Allüren vortäuscht. Der Pariser Polizeipräfekt Baron Haussmann hatte bekanntlich die Anlage von breiten Boulevards vervielfältigt, um den Einsatz des Militärs gegen allfällige Revolten zu erleichtern.] Dem ersten Blick verborgen, aber deshalb nicht weniger charakteristisch für das emsige und meist auch durchaus heitere Treiben der dort ansässigen Kleinbürger war das Leben in den Hinterhöfen. Um ihre Tiefe zu nützen, hatte man entlang der soliden Hofmauer überdachte Arbeitsräume gebaut — um nicht zu sagen gebastelt — die gegen Wind und Regen Schutz boten, und so den kleinen Handwerkern oder Kunstgewerblern Gelegenheit gaben, ihre Tätigkeit auszuüben. Einer von ihnen war Renaud, den er nicht ohne einige Mühe an diesem mehr oder weniger anonymen Ort ausfindig gemacht hatte. Die prüfende Reserve, mit der er den so unerwartet aufgetauchten Fremden empfing, verwandelte sich sehr schnell in freundliche Neugier, als der Name Pesce fiel. Kein Zweifel, die Basis einer freundschaftlichen Beziehung war vorhanden. Aber wie, von dieser schmalen Basis ausgehend, das im Grunde reichlich ungeheuerliche Anliegen vorbringen, mit dem er gekommen war? Die verlegene Ablehnung, die sein erster Versuch, wenige Stunden zuvor erfahren hatte, lag ihm noch lähmend auf der Zunge. Und doch, langes Herumreden hätte die Sache nur verschlimmert; es mußte schnell und ohne Umschweife gesagt werden. Das Resultat war vollkommen überraschend. Er sah den Bittsteller mehrere Augenblicke lang sprachlos an — aber schon von Anfang an hatten seine Augen zu funkeln begonnen — und dann sagte er mit unüberhörbarem Vergnügen in der Stimme und mit der Hand auf eine primitive Wachsleinwand überzogene Liegestatt neben der Eingangstür hinweisend: „Wenn Sie damit vorliebnehmen wollen, können Sie bleiben, so lange Sie wollen.“ Schwer zu schildern, die Wirkung des freudigen Schocks, die diese fast blitzschnell gegebene Antwort auslöste. Eine Mischung aus ungeheurer Erleichterung über die Befreiung von einer immer drükkender gewordenen Spannung und ungläubiges Staunen über diese im wahrsten Sinne des Wortes ‚‚unüberlegte“ Reaktion auf eine wahrhaftig nicht alltägliche Bitte. Der unüberhörbare vergnügte Ton konnte nicht nur einer spontanen Hilfsbereitschaft zuzuschreiben sein, oder einer ideologischen Solidaritätskundgebung. Das mußte tiefer sitzen: Das war die Reaktion eines Mannes, dem die Liebe zur Gefahr im Blut steckte und das Gleiche beim andern vermutete. Was richtig und auch wieder nicht richtig war, denn sie (die Vermutung) verkannte die ideologische Komponente, die für den anderen von ausschlaggebender Bedeutung war. Ideologien, Parteien, Genossenschaften, so vorteilhaft sie sein mochten, hätte er als Fesseln empfunden. Er war nicht auf Vorteil bedacht. Er war ein Einzelgänger. Er war ein passionierter Skifahrer, zu einer Zeit, da dieser Sport in Frankreich noch sehr wenig verbreitet war, weil die über den Schnee gleitenden Bretter seine Freiheit der Bewegung beflügelten und er liebte die Gefahr vielleicht nur deshalb, weil sie ihm erlaubte, seine Freiheit von Furcht zu bestätigen. Lebensfreude und Freiheit waren für ihn untrennbar verbunden. Unbeschwert und einsatzbereit zugleich, im Wollen wie im Handeln, das war Renaud. Und ein prädestinierter Wegöffner zu einer neuen Existenz. 2 Zwei Tage später kam Henriette — Henriette Noufflard war ihr offizieller Name — brachte ihm, wie versprochen, eine leere Identitätskarte, die er nach Belieben ausfüllen konnte, und da ihr sein Unterschlupf auf längere Dauer doch zu dürftig schien, schlug sie ihm vor, in ein Zimmer im Haus