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ihrer Eltern, ein Hotel Particulier in der Rue de Varennes, zu übersiedeln. Sie selbst werde sich in einigen Tagen wieder melden. Und so zog der Joseph Warin in ein „‚Hotel Particulier‘“ der Rue de Varennes ein, eine der nobelsten Straßen von Paris. Hotel Particulier nennt man in Paris kleine Stadtpalais, die Adelige oder wohlhabende Bürger im Verlauf des 18. Jahrhunderts erbauen ließen. Mit schlichter Fassade, ohne barocke Zierart oder schwungvollem Portal, aber immer nach französischer Tradition ,,entre cour et jardin“ — zwischen Hof und Garten. Straßenseitig erstreckte sich das Einlaßgebäude mit Pförtnerwohnung und angrenzendem Hof, der das Vorfeld zum eigentlichen Wohnsitz und anschließenden Garten bildete. Vornehme Zurückhaltung nach außen und kultivierte Lebensfreude innerhalb selbstgezogener Grenzen für eine Gesellschaft, die unter sich bleiben wollte. Das berühmteste unter ihnen war und ist das Hotel Matignon, einst, vor dem Ersten Weltkrieg, Sitz der österreichischen Botschaft, heute Sitz des jeweiligen President du Conseil, des Regierungschefs. Die Räume, in die Henriette ihn einquartierte, hatten keinerlei aristokratischen Anstrich. Es waren die ihrer Studentenbude, aber eben deshalb boten sie dem Flüchtling, zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Paris, eine Art von vertrautem Zuhause und das Gefühl einer abgesicherten Geborgenheit. Die unmittelbare Nähe des hochoffiziellen Hotel Matignon — kaum 200 Meter entfernt — schien ihm, zu Recht oder zu Unrecht, ein schützender Wall gegen alle Turbulenzen der Außenwelt. Es hat auch in Frankreich nie an Politikern gefehlt, die die Idee der Nation in HurraPatriotismus umgemünzt haben. Aber für die weitaus überwiegende Mehrheit der Franzosen war und ist die Nation eine in vielen Jahrhunderten gewachsene Sprachund Schicksalsgemeinschaft, der anzugehören eine Selbstverständlichkeit ist, diees nicht nötig hat, lautstark oder provokant beteuert zu werden, sondern nur -in Zeiten der Not — der Manifestation einer stillen Solidarität bedarf. Und Not herrschte zu Beginn der 40er Jahre in den französischen Großstädten, und vor allem in Paris, bei weitem mehr noch, als in den deutschen Städten, wo eine systematische Kriegsplanung auch die zivile Versorgung miteinbezogen hatte. Aber während, wie immer in solchen Fällen, der Schwarzhandel üppigste Blüten trieb, bewahrte die gebildete Oberschicht der französischen Bourgeoisie eine bemerkenswerte Haltung. Sie, die zweifellos vor dem Krieg den Privilegien ihres Standes oder ihres Vermögens gemäß gelebt hatte, versagte sich nun, da der Krieg die Nation ins Unglück gestürzt hatte, von ihren Privilegien Gebrauch zu machen. Sie manifestierte ihre nationale Solidarität, indem sie die Entbehrungen mit jenen teilte, die nicht anders konnten. Diese moralische Standfestigkeit einer Elite bildete den Nährboden, in dem der Gedanke des Widerstands seine Wurzeln schlagen konnte. Zu dieser Elite gehörte auch die Familie Noufflard. Hatte Doletta, als sie ihren kleinen Empfehlungsbrief an Henriette schrieb, damit gerechnet, daß diese auch ihre Familie davon unterrichten würde? Höchstwahrscheinlich. Jedenfalls trug die Botschaft, mit der Henriette nach einigen Tagen zurückkehrte, ganz eindeutig den Stempel eines Familienbeschlusses, der der Wahrscheinlichkeit einer planmäßigen, systematischen Fahndung während der ersten Wochen Rechnung trug. Also überbrachte sie ihm die Botschaft, daß eine Tante von ihr bereit sei, ihn einen Monat lang zu beherbergen, ihre sehr isoliert gelegene Villa, etwa 30 Kilometer von Paris entfernt, sei ein idealer Ort dafür. Und so führte ihn ein wohlmeinendes Schicksal drei Wochen nach seiner Ankunft in Paris zu seinem dritten Refugium, dem Domizil von Henriettes Tante Florence Halevy. 3 Florence Halevy, Witwe des namhaften Universitätsprofessors Elie Halevy, war, wäre man geneigt zu sagen, eine vornehme ältere Dame (aber nur wenn man sofort alles Konventionelle ausklammert, das mit dieser Bezeichnung verbunden ist) und Schwiegertochter des inzwischen längst verstorbenen Ludovic Halevy, des berühmtenLibrettistenderOffenbachoperetten, die ein halbes Jahrhundert lang in ganz Europa gespielt wurden. Weder die betonte Einfachheit ihrer Kleidung, noch der schlichte Scheitel ihrer grauen Haare konnten die Erinnerung an Haute Couture oder Salon de Coiffure wachrufen, und doch ging von der Allüre ihrer großen schlanken Gestalt ein Hauch von selbstsicherer Weltgewandtheit aus. Wenn sie Distanz bewahrte, so geschah dies nicht aus Uberheblichkeit, sondern weil sie unaufdringlich bleiben wollte; und wenn sie von Zeit zu Zeitihrem Gespriachspartner einen priifenden Blick zuwarf, so verbarg sie dies stets hinter einem freundlichen Lächeln. Da Elie Halevy sich vor allem mit der Vergangenheit Englands beschäftigte — seine „Geschichte Englands im 19. Jahrhundert“ war sogar, eine einmalige Auszeichnung für einen ,,Nichtenglinder*, als „Pinguin Book“ erschienen — hatte sie mit ihrem Mann viele Jahre in England verbracht und so alle Berühmtheiten aus Literatur und Politik kennengelernt. Sie hätte vermutlich eine Fülle von Anekdoten erzählen können, aber obwohl er täglich in ihrer Gesellschaft die Mahlzeiten einnahm, bekam er nur selten eine zu hören und wenn, dann nur in kleinen Anspielungen. So sagte sie, als der Name eines damals berühmten Schriftstellers fiel, zum Beispiel ‚der konnte keine hübsche Frau sehen, ohne ihr den Hof zu machen“. Aber als er neugierig auf eine Fortsetzung hoffte, wartete er vergeblich. Sie hatte sich geradezu unterbrochen; vielleicht aus Abneigung gegen Geschwätzigkeit, vielleicht aber auch, weil sich dahinter eine persönliche Erinnerung verbarg. Denn, daß sie zu jener Zeit eine sehr hübsche Frau gewesen war, sah man ihr noch 20 Jahre später an. Die selbst gewählte Einsamkeit — nur zwei Hausgehilfinnen waren Mitbewohner in der isoliert hinter hohen Gitterstäben gelegenen Villa entsprach wahrscheinlich ihrem Bedürfnis nach einer besinnlichen Rückschau auf ein tätiges und begegnungsreiches Leben. Die Zeit zwischen den Mahlzeiten verbrachte er im geräumigen Bibliothekszimmer über die ,,Geschichte Englands“ gebeugt, die ihm, der Geschichte studiert hatte, begeisterte. Er fand in ihr eine Fülle von Hinweisen auf ihm unbekannte Zusammenhänge und vor allem eine exemplarische Objektivität, die für ihn immer das oberste Gebot aller Ge33