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Alfred Gong Ihr werdet vergessen Ihr schwöret: Niemals vergessen! Doch ihr werdet vergessen, ihr ahnt nicht, wie rasch ihr vergessen werdet... Bevor noch diese getötete Erde die ersten Früchte euch bieten wird können, bevor noch ihre und eure Narben verheilt sind, obwohl ihr nicht los seid den Alp der Nächte und Takt der Prothesen euch immer im Ohr ist — werdet ihr vergessen ... Bevor der Mond wieder aufblüht, wird die frischgebackene Witwe lüstern ihre Freier empfangen und wird lächeln und sprühen und duften. In diesem Jahrzehnt ohne Särge ist ihr sein Grab nicht bekannt, drum kann sie auch schneller vergessen ... Und du wirst die Kinder vergessen, die wie Katzen am Straßenrand lagen, ihr Knochengerüst, ihre Schwären wirst du vergessen und ihre Augen groß, voller Fragen und Klagen über die Welt ihrer Eltern. Auf einem Weibe stöhnend und angenehm schwitzend, wirst du neue Kinder in die Welt jagen. Du willst ja selber vergessen ... Du wirst wieder in der Sonne liegen und vom Meer dich in den Schlaf wiegen lassen; deine Kleider, deine Speisen, deine Freunde wirst du dir wählen. Du lernst rasch das Lieben und wirst aus kleinen Gründen wieder hassen, du wirst reisen, wirst singen, erzählen, besuchen wirst du Messen und andere quälen, Neueres suchen und vergessen, vergessen, vergessen. Ein Hund vergißt nicht den Stock, der ihn geschlagen und kein Tier das Feuer woran es sich verbrannt hat — nur der Mensch ist aus solchem Stoff, daß Gesterns Blutrot ihm heute rosig erscheint. Die Erfahrung wirst du vergessen. Die Vorsätze wirst du vergessen. Die Gelübde wirst du vergessen. In dieselben Fallen wirst du immer wieder treten. Doch wer vergißt, so viel vergißt — wie kann dem, wie soll dem, wie darf dem geholfen werden? Entnommen dem von Joachim Herrmann aus Gongs Nachlaß herausgegebenen Gedichtband ‚Israels letzter Psalm“ (Aachen: Rimbaud 1995). Erstdruck in: Das jüdische Echo (Wien) 2. Jg., Nr. 12/13 (Juli/August 1954). Alfred Gong (1920 Czernowitz - 1981 New York), Schulkamerad Paul Celans, überlebte die NS-Zeit in Rumänien, flüchtete dann nach Wien, wo er seine literarische Tätigkeit begann, emigrierte 1951 nach New York. Sein 15. Todestag ist ein Anlaß, sich an ihn, einen der bedeutendsten Lyriker des Exils, zu erinnern. Alfred-Gong-Gesellschaft e.V. 1995 wurde aus Anlaß des 75. Geburtstages des Dichters auf Initiative von Jerry Glenn und Joachim Herrmann in Osnabrück die AlfredGong-Gesellschaft gegründet. Zielsetzung: Pflege und Erforschung des Werkes von Alfred Gong und anderen Dichtern aus der Bukowina. Darüber hinaus interessiert sich die Gesellschaft für Autoren aus Ostund Südosteuropa sowie für die in den nationalsozialistischen Konzentrationlagern entstandene oder an diese erinnernde Literatur. Sie hat heuer mit der Einrichtung einer Alfred Gong-Dokumentation begonnen (eigene Bestände und Leihgaben), deren spätere Anbindung an eine Universität angestrebt wird. Vorbereitet wird auch eine Ausstellung. Die Gesellschaft veranstaltete in der kurzen Zeit ihres Bestehens zahlreiche Vorträge und Lesungen unter den Reihentiteln ‚‚Literatur aus der Bukowina“, ‚‚Verfolgung und Exil“, „Jüdische Autoren“, so u.a. auch mit dem Vorsitzenden der ,,Internationalen Erich Fried Gesellschaft fiir Literatur und Sprache“ Kurt Groenewold. Sie arbeitet mit der University of Cincinnati (wo sich Gongs Nachlaß befindet), dem Bukowina-Institut in Augsburg und dem Siidostdeutschen Kulturwerk in Miinchen zusammen. Die Theodor Kramer Gesellschaft hat mit der Alfred-Gong-Gesellschaft eine Austauschmitgliedschaft vereinbart und möchte mit ihr in Zukunft auch zusammenarbeiten. Ein erster Schritt war eine gemeinsame Veranstaltung zusammen mit der Österreichischen Exilbibliothek am 20. November 1996 im Literaturhaus Wien. Es ist verständlich, daß die Gesellschaft auch in Österreich, dem Land, mit dem Alfred Gong doch durch viele Fäden verbunden war, um Mitglieder wirbt. (Jahresmitgliedsbeitrag DM 30,-/ÖS 210,-, für Studenten, Rentner, Arbeitslose DM 15,-/ÖS 105,-). Adresse: c/o Joachim Herrmann (Vorsitzender), Rheiner Landstr.16, D-49078 Osnabrück. Tel. 0049 541 45373. 39