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wie es an anderem Ort geschah, zum Maßstab unserer moralischen Beurteilung machen würden, davon zeugt eine für einen anderen Ort, das „Moderne Theater“ am Schwarzenbergplatz, von ihm selbst verfaßte Einleitung zu einer Lesung am 9. Januar 1938, der letzten, die er für 20 Jahre in Wien hielt; sie ist erfüllt von einer im nachhinein erschreckenden Klarsichtigkeit, die dem Dichter selbst, der in unfaßbarer Naivität noch am 13. März 1938, als Hitlers Truppen schon in Wien standen, Buchbesprechungen zum Andruck an eine Wiener Zeitung sandte, damals gar nicht bewußt gewesen sein mag, und sie gibt uns gleichzeitig, in „‚bescheidenen“ Worten, wie er sagt, so sehr Auskunft über seine eigene Erkenntnis seines Wesens, daß sie Franz Kain hier an den Schluß gestellt werden kann: „Sehr verehrte Zuhörer! In diesen Tagen, in denen sich alle Dinge im Umbruch befinden, wird vielfach auch die Frage nach dem Dichter und seiner Stellung innerhalb seiner Zeit aufgeworfen. Die Dichter wird Vorkämpfer und Partisan seiner Zeit, er wird Verkünder und Seher, er wird Bewahrer und Gestalter des Zeitlosen genannt. Es kann nicht meine Aufgabe sein, mich heute zu diesen großen Fragen zu äußern; ich möchte nur mit einigen Worten bescheiden festlegen, was ich selbst gerne sein und wofür ich gehalten werden möchte. Gerne möchte ich der Chronist meiner Zeit sein.“ Und so wollen wir auch seiner hier, in diesem Hause, in dem seine Stimme erklang, gedenken. Ich war noch jung und hatte als ,,Gebirgsbauer“ im inneren Salzkammergut auch keine Gelegenheit, Theodor Kramer persönlich kennenzulernen. Und doch hat er nie aufgehört, auf mich einzuwirken, bis auf den heutigen Tag. Es muß Anfang der Dreißigerjahre gewesen sein, als ich in der Zeitschrift ,,Der Jugendliche Arbeiter‘ zum erstenmal Verse dieses Dichters lesen konnte. Dieser erste Eindruck galt zunächst einer völlig fremden Landschaft, die jedoch neugierig und sehnsüchtig macht. 1935 machten wir mit der legendären Salzkammergut-Lokalbahn von Bad Ischl aus einen Schulausflug nach Salzburg. Bis Strobl und St. Wolfgang war uns die Landschaft halbwegs vertraut, denn bis hierher reichte der Radius unserer Fahrrad-Ausflüge. Aber zwischen Mondsee und Thalgau schnaufte die kleine Bahn plötzlich durch Wiesen mit seltsamen Blumen, nämlich Schwertlilien. Es waren zwar nur wilde Lilien, aber sie standen so dicht, daß sie damit ihr Heimatrecht stolz zur Schau stellten. Diese merkwürdige Blumenpracht erzeugte in mir ein ähnliches Gefühl, wie das Lesen von Kramer-Gedichten über das Lößland des Weinviertels. Die blauen Lilien begannen förmlich zu leuchten. Auch die Jahreszeiten, wie sie Kramer gestaltet, weckten Gefühle des Verwandtseins. Die Kälte des Jahres 1929 war im Gebirge ebenso grausam wie am Neusiedlersee. Mein Bruder, erst wenige Monate alt, mußte wegen Bauarbeiten im Haus, die viel Staub verursachten, bei klirrender Kälte mit seiner Wiege vor dem Haus ins Freie gestellt werden. Das Baby wurde mit Schaffellen zugedeckt, für die Atmung wurde ein kleiner Kamin freigehalten. Immer am Nachmittag durfte ich den kleinen Bruder wieder in die Stube bringen. Sein Körper war warm und hatte völlig unberührt der Kälte getrotzt. Die große Kälte war für mich noch mit einem anderen Erlebnis verbunden. Die Gemeinde hatte als Notstandsarbeit einen Wegebau in Auftrag gegeben und mein Vater arbeitete dabei als Steinmaurer. Da Kälteferien angeordnet waren, trieben wir uns auf den gefrorenen Bächen und Teichen herum. Zweimal am Tag mußte ich dem Vater Tee bringen. Der Weg vom Haus bis zur Arbeitsstelle hatte einen Knick, sodaß mich die Mutter, die mir nachschaute, nicht mehr sehen, die Arbeiter der Baustelle noch nicht sehen konnten. Diesen ‚‚toten Winkel“ benützte ich stets dazu, von dem Tee zu kosten. Er war süß und heiß und enthielt viel Rum. Der Vater senkte dann die Eisspitzen seines Schnurrbartes in das heiße Getränk, ehe er trank und die Arbeitskameraden sagten: wie in Sibirien. Ich kam von dem Tee-Zubringerdienst immer ganz aufgekratzt nach Hause, aber niemand ahnte, daß die hektische Fröhlichkeit von dem Rumtee herrührte, den ich dem Vater heimlich abgezwackt hatte. Auch Erinnerungen an den ersten Weltkrieg, die im Werk Kramers kräftige Farben zeigen, waren in meiner Jugend höchst aktuell. Wir wußten ja nicht, daß wir dem zweiten Weltkrieg schon näher waren als der erste von uns entfernt war. Der Krieg lebte fort in den Familien, in den Erzählungen der Väter und Mütter. Wenn Kramer in einem seiner Gedichte davon spricht, wie befreiend es gewesen sei, einem Oberst die Fenster einzuwerfen, so war dies verwandt mit Ereignissen, die in unserer Familie lebendig geblieben sind. Mein Vater war als Austauschgefangener im Juli 1918 aus sibirischer Gefangenschaft zurückgekehrt. In einem Auffanglager in Galizien belehrte sie ein Oberst: Bis jetzt seid ihr in einem Land gewesen, in dem keine Ordnung herrscht. Jetzt seid ihr wieder in einem Land, in dem strenge Ordnung herrscht, verstanden? Das Massaker von Kragujevac, bei dem erst vor kurzem 44 Heimkehrer als Meuterer erschossen wurden, ließ grüßen. Dann war die Stimme Kramers für uns lange verstummt und sie hat uns sehr gefehlt. Aber sein unverkennbarer Ton wirkte noch nach, als wir in die Gefangnisse der Hitlerzeit kamen. Auch 1945 war das Wiederaufleben nur stockend und diinn. Gewif, man war ihm immer auf der Spur, aber es gelang nicht, ihn wieder in unsere Mitte zu stellen. Ich habe einige Jahre in der DDR gelebt und auch dort gab es eine treue KramerGemeinde. Der Lyriker Peter Huchel, der zu meinen Förderern gehörte, ermunterte mich, Kramer als literarischen Wegweiser zu wählen. Er meine, ich müßte den Globus Verlag beeinflussen, weitere Werke Kramers aufzulegen. Der Globus Verlag aber erklärte sich dazu mit Recht oder Unrecht, das sei dahingestellt, nicht bereit, denn die Boykottierer in den verschiedenen Lagern seien gegenwärtig zu mächtig, um ihre Mauern durchbrechen zu können. Warum erfüllten die „anderen“ nicht ihre Pflicht? fragten die Globus-Leute. Der Musikwissenschaftler Georg Knepler, der Sohn eines Lehär-Librettisten und durch Jahre Klavierbegleiter von Karl Kraus bei dessen Offenbach-Abenden war ein guter Kenner des Werkes Kramers. Er zitierte bei unseren Zusammenkünften mit Vorliebe das Gedicht vom siechen Bauern und die Gedichte über den Hollerbaum. Knepler ist übrigens im Dezember vergangenen Jahres 90 Jahre alt geworden. Was macht nun die Gestalten Kramers so lebendig? Kaum eine dieser Gestalten hätte eine Heimstatt in einer biederen Chro19