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Valerie Lorenz Die alte Dame, die mir im Abteil II. Klasse gegenübersitzt, redet und redet. Ihr Geschwätz ist mir lästig und ich gebe auf ihre Fragen nur einsilbige Antworten. Lucies Brief macht mir zu schaffen. „Komm, bitte komm!“ Schrieb sie. ‚Ich weiß nicht mehr weiter“. Noch vor zwei Wochen, beim Begräbnis des Professors, schien sie gefaßt und durchaus in der Lage, die Situation zu meistern. Sein Tod kam uns allen unerwartet. Aber für Lucie war es ein Schock. Das Hochgefühl, endlich den Job zu haben, den sie sich immer gewünscht hatte, der Stolz, bei Professor Herbst, einem anerkannten Historiker, als Sekretärin arbeiten zu dürfen, muß eine Leere zurückgelassen haben, mit der sie sich im Augenblick nicht abfinden kann. Immer wieder erzählte sie mir, welch wunderbarer Mensch Herbst sei, wie interessant die Arbeit, wie schön der Bungalow, in dem ihr ein kleines Apartment zur Verfügung stand, und daß Moosbrunn ein nettes Dorf ist. Vor allem sagte ihr die Landschaft zu. Die Hochfläche des Waldviertels mit dem großen Himmel darüber hatte es ihr angetan. Daß das Leben hier, das sich die letzten vier Jahre so gut angelassen hatte, nun zu Ende sein sollte, löst bei ihr zweifellos Panik aus. Ich sinniere und grüble, wie ich ihr nur helfen könnte, aber die Geschwätzigkeit meines vis ä vis reißt mich immer wieder aus meinen Gedanken. Die Frau gibt nicht auf, obwohl ich ihr kaum Gehör schenke. Wohin ich fahre, will sie wissen, ob ich Verwandte besuche oder zur Kur reise? Diese Landschaft ist ja auch zu schön, sagt sie. Sehen sie nur, wie sich die kleinen Weiler in die Mulden dukken, wie sich Häuschen an Häuschen schmiegt. Eigentlich war es immer mein Wunsch gewesen, auf dem Land zu leben. In der Früh die Hähne krähen zu hören, etwas später dann dem Gebimmel der Kirchenglocken lauschen, bevor noch die vielfältigen Geräusche des Tages beginnen. Da ist Heimat, da spürt man Geborgenheit. Ich hätte ihr antworten können, daß das Leben in der Provinz nicht unbedingt traut sein müsse, und das es fraglich ist, ob man in so kleinen Orten wirklich gut aufgeho24. ben sei. Dies mag einem vom fahrenden Zug so vorkommen. Ich will mich jedoch mit der alten Dame in kein Gespräch mehr einlassen, da ich in der nächsten Station aussteige. Als sie merkt, daß ich meine Jacke vom Haken nehme und den Koffer aus dem Gepäcksnetz hole, bedauert sie es, daß ich schon am Ziel sei. Es war so nett mit Ihnen zu plaudern, findet sie. Ich verabschiede mich rasch, denn eben fährt der Zug in die Station ein. Durch das Fenster sehe ich Lucie auf dem Perron auf und ab gehen. Wie gut sie aussieht in dem himbeerfarbenen Kostüm und wie jung sie noch ist, denke ich. Schon hat sie mich in der geöffneten Waggontür erblickt, läuft sie zu mir her und hilft mir beim Aussteigen. Daß du da bist, Gini, daß du da bist! ruft sie ein ums andere Mal. Sie umarmt und küßt mich und will mich gar nicht loslassen. Dann nimmt sie meinen Koffer und wir gehen durch das Bahnhofsgebäude auf die Straße, wo Lucie den Wagen abgestellt hat. Ich überbringe ihr Grüße von Leo, meinem Mann, erzähle ihr auch manchen Tratsch, der mir gerade einfällt, und selbst von der alten Dame im Zug berichte ich ihr, die so begeistert vom Waldviertel sprach. Lucie nimmt mein Geplauder bloß stumm zur Kenntnis. Gewiß sie muß auf die Fahrbahn achten, auf den Weg, der nun in schmalen Serpentinen der Höhe zustrebt, während ich mich in die Polsterung zurücklehnen darf und die Fahrt genieße: Den sonnigen, nicht zu heißen Tag und den tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Die alte Dame im Zug hat recht, sagt Lucie plötzlich unvermittelt. Das Waldviertel ist wirklich schön. Der viele Nadelwald, die kleinen Birkenhaine, die Tiimpel und Moore verzaubern mich. Ich bin ganz ihrer Meinung, denn schneller als mir lieb ist, sind wir in Moosbrunn und Lucie bringt das Auto vor dem Bungalow des Professors zum Stehen. Hinter dem Haus breiten sich Wiesen und Felder aus, und als Abschluß sieht man eine wie mit einem Filzstift gezogene Linie: Den Tann! Ein großes, zusammenhängendes Waldgebiet, das sich bis an die Grenze zu Tschechien erstreckt. Hat das Land hier Herbst gehört? frage ich. Nein, nur einige 1000 Quadratmeter, bis zu den zwei Föhren ungefähr. Lucie sperrt die Haustür auf und wir befinden uns in einem großen, viereckigen Raum, der Diele. Sie führt mich in mein Zimmer und hilft mir beim Auspacken des Koffers. Ich muß übermorgen zum Notar in die Kreisstadt, sagt sie ziemlich abrupt. Ich möchte, daß du mitkommst! Ja, wirklich, ich bitte dich mitzukommen. Es wird dir doch möglich sein? Ich hoffe du bleibst einige Tage. Ich fahre nicht allein, das mußt du verstehen. Ich verstehe im Augenblick noch gar nicht worum es geht. Und obwohl ich weder ja noch nein gesagt habe, steigert sich Lucie in eine Erregung, die ich nicht nachvollziehen kann. Du kommst doch mit, du wirst doch mitkommen, ruft sie gereizt. Allein fahre ich nicht. Noch bevor ich mich dazu äußern kann, fängt Lucie bitterlich zu weinen an. Ein Tränenstrom rinnt ihr die Wangen hinab, den ich selbst mit meinem Taschentuch nicht stillen kann. Ich halse sie, ziehe sie an mich: Wein nur, wein dich aus, flüstere ich ihr zu. Nach einer Weile löst sie sich aus meinen Armen. Ich mache rasch Kaffee, murmelt sie und läuft davon. Da ich nichts mehr von ihr höre, suche ich sie und finde sie schluchzend in der Küche auf dem kleinen Bänklein neben dem Herd. Was ist es, das dich so bekümmert? frage ich. Lucie sagt nichts, bleibt stumm. Ich muß Geduld haben, ich weiß es. Zwar bin ich nur zehn Jahre älter als sie, so ist sie doch fast mein Kind. Gleich nach ihrer Geburt habe ich an meiner kleinen Schwester sozusagen Mutterstelle vertreten, habe sie gebadet, gewickelt, gepäppelt, und wenn sie nachts weinte, stand ich auf, um sie zu beruhigen. Wenn es mir nur auch jetzt gelänge, sie aus ihrer Depression herauszuholen. Am nächsten Tag, als wir zusammen auf dem kleinen Preiselbeerhügel hinter dem Haus sitzen, hat sie sich etwas gefaßt. Das blaue Dirndl, mit der weißen Bluse, das du anhast, steht dir besonders gut, sage ich zu Lucie. Man möchte glauben, du bist nicht älter als 25 Jahre. Sie lächelte einen Augenblick, wird aber gleich wieder ernst. Ich bin 37 und sehe auch so aus, erklärt sie eigenwillig. Aber dies ist nicht meine Thema. Wir reden über dieses und jenes, ohne daß ein richtiges Gespräch zustande kommt. Machen wir einen kleinen Bummel in den