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Kolloquium „Auswanderungen aus Österreich“ 25./26. Oktober 1996 im Literaturhaus Wien Das Projekt ,,Auswanderungen aus Osterreich“ bildete einen Teilbereich eines großangelegten Forschungsprogrammes, das unter dem Titel ,,Grenzenloses Osterreich“ anläßlich der Gedenkjahre 1995/96 (Zweite Republik und Millenium) konzipiert worden war. Als Konstanten der zu erarbeitenden Bereiche kristallisierten sich die Begriffe Stereotypen, Identitäten, Kontinuitäten, Kulturtraditionen und Innovationen heraus. Als Ergebnis des Teilprojektes wurde der im Böhlau-Verlag erschienene, von Traude Horvath und Gerda Neyer herausgegebene Band Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in Form eines zweitägigen Symposiums präsentiert. Einem Desiderat der österreichischen historischen Forschung wurde umfassend Rechnung getragen: Der umfangreiche Band beschreibt die Geschichte von Auswanderungen im Laufe von 150 Jahren vor dem Hintergrund der jeweiligen sozioökonomischen Verhältnisse und der psychischen Konstitutionen der Gesellschaft. Auswanderungsmotive, Ursachen und deren Wandel sowie die jeweiligen Bedingungen in den Aufnahmeländern wurden analysiert. Es konnte dabei eine wesentliche, sich aus demographischen Forschungen ergebende Aussage getroffen werden: daß sich die Zahl der heute im Ausland lebenden Österreicher nahezu mit jener der nach Österreich Eingewanderten deckt. Auch diese Information entlarvt die Behauptungen vom ‚vollen Boot“ wieder einmal als falsch. Zahlreiche Autoren der Buchpublikation wurde durch das Symposium die Möglichkeit gegeben, ihre Beiträge in Form von Kurzreferaten einem interessierten Publikum vorzustellen und zu diskutieren. Heinz Faßmann stellte einleitend den Beginn der Massenwanderung aus Österreich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dar, die durch Industrialisierung, Bauernbefreiung und Krisen in der Agrarwirtschaft ausgelöst wurde. Modernisierung bewirkte räumliche Mobilität; das durch die Französische Revolution erhobene Postulat der persönlichen Freiheit wurde auch auf die Freiheit des Migrierens übertragen. Technische Innovationen im Bereich der Transportmittel ermöglichten die Auswanderung in größerem Maße auch in überseeische Länder. Zwischen 1870 und 1910 wanderten 3,5 Millionen Menschen aus der k.u.k. Monarchie aus; Österreich-Ungarn stand demnach an der Spitze der europäischen Auswanderungsländer. Meinrad Pichler stellte anhand einer Biographie die Vorarlberger Amerikawanderung dar, die erst durch Industrialisierung, danach wegen hoher Einfuhrzölle ausgelöst wurde, die zahlreiche Stickerfamilien ins Ausland trieb. Der Militärpflicht zu entgehen, bildete ebenfalls ein wesentliches Motiv. Mein Beitrag (Ursula Prutsch: Brasilien — die Suche nach einer neuen Heimat) analysierte — ausgehend von einer Darstellung der Migrationspolitik in der Ersten Republik — die Auswanderung von Osterreichern nach Brasilien, das zeitweise nach den USA als zweitwichtigstes Aufnahmeland zwischen 1918 und 1938 fungierte. Werner Dreier demonstrierte anhand des Beispiels einer in den frühen zwanziger Jahren gegründeten Vorarlberger „Kolonie“ bei Itarare (Brasilien) diese als ,,Kulturschleuse“ (nach Klaus Bade), als Durchgangsstation fiir den erstrebten Aufstieg in die Mittelschicht im städtischen Bereich. Angelika Jensen beschrieb Auswanderungsbestrebungen von zionistischen Jugendvereinigungen nach Palästina sowie den Kampf um die begehrten Einwanderungszertifikate; Johanna Gehmacher wies durch ihre Forschungen darauf hin, daß für immerhin 60.000 ÖsterreicherInnen ab 1933 das Deutsche Reich ein begehrtes Auswanderungsziel war, von denen viele in der ‚Österreichischen Legion“ oder in der Reichsjugendbewegung Karriere machen wollten. Welche Bedeutung Rußland für österreichische Kommunisten nach 1933 hatte, erläuterte Barry MeLoughlin, der auch auf die rigorose Ausbürgerungspolitik Österreichs hinwies. Einen für das Exil-Forum „Mit der Ziehharmonika“ essentiellen Beitrag zur Emigration bot Gabriele Anderl, die auch zurecht auf die problematische Subsumption von Flucht und Verbreitung unter den doch euphemistischen Begriff ,,Auswanderung“ hinwies. Auch sie macht das Unterscheidungsmerkmal am Grad der ,,Freiwilligkeit fest: Emigration und Exil sind erzwungen, da ein Verbleiben in der Heimat Lebensbedrohung bedeutet hätte. Die Flucht von ca. 130.000 jüdischen, vertriebenen Österreichern vor dem NS-Regime, die Rolle der Immigrationsstaaten schilderte sie — trotz der gebotenen Kürze - in äußerst differenzierter Weise. Ausgehend von den ersten Emigrationswellen 1934 beschrieb Anderl die Flucht nach Großbritannien, Frankreich, Belgien, Shanghai, nach Australien und in amerikanische Staaten; sie hob die Immigrationspolitik der Schweiz, auf deren Konto die Einführung des „‚J"-Stempels ging, die Konferenz von Evian 1938 sowie die Errichtung von Lagern für „enemy aliens“ (Großbritannien, Frankreich) als Negativbeispiele hervor. Die Schwierigkeiten, die begehrten Visa zu erlangen, betonte sie ebenso wie die Politik der ,, Wartesile“ und die Versuche der Adaption und Existenzbewiltigung; sie verwies auf Identitätskonflikte, aber auch auf den Transfer von Wissen und Intellektualität mit dem damit verbundenen Vorteil für die Aufnahmeländer und die nicht wiedergutzumachenden Nachteile für Österreich. Auch die Rollen von Immigranten im Geheimdienst, in Presse und Radio der Immigrationslinder, der Dienst in Armeen wurden angesprochen. Von den nach 1945 erfolgten ,, Auswanderungen“ waren gerade diejenigen des ersten Dezenniums in bezug auf Höhe und Verlauf mangels Statistiken nicht exakt festlegbar. Zu den ,,klassischen“ Aufnahmeländern zählten nun auch Kanada, Australien und Südafrika, ‚‚individualisiertere Wanderungen“ nahmen zu, betonte Gerda Neyer. Für die Arbeitsämter fungierte Abwanderung auch als Maßnahme zur Verringerung der Arbeitslosigkeit. Monika Pelz schilderte — u.a. anhand von Zeitungsmeldungen — den Status der ,,war brides“ (der Kriegsbräute) als Opfer öffentlicher Diffamierungen und Diskriminierungen. Daß sich zwischen 1945 und 1955 ca. 2.000 Österreicherinnen aus dem Texilbereich für Großbritannien als Land entschieden, das ihnen einen beruflichen Aufstieg ermöglichen könnte, erforschte — v.a. durch die Methode der ‚Oral History“ — Reinhold Gärtner. Er hob hervor, daß die Adaption nicht immer gelang und Österreich aus der Distanz verklärt wurde. Motivationswandel von Entwicklungshelfern und (katholischen) MissionarInnen — auch im Zusammenhang mit der Kritik am Begriff der „„Entwickeltheit“ eines Landes — gab Ulrike Lunacek zu bedenken: wollte man früher „entwickeln“ helfen, gilt nun eher das Prinzip des persönlichen LernenWollens. Motivationen für Saisonarbeit, Grenzgängertum, aber auch die Fremdheit als Selbsterfahrung zeigten Ulrike Pröll und Eugene Sensenig am Beispiel der Schweiz und Deutschlands, wobei letzerer auch Parallelen zur bedenklichen Ausländerpolitik Österreichs zog. Andreas J. Obrecht beschrieb am Beispiel Südafrika 31