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Jahren verstorbenen ehemaligen mexikani¬
schen Konsul und „Helden von Marseille“ Gil¬
berto Bosques. Ihre erste und ihre zweite Lan¬
dung in Mexiko, zuerst als Exilantin, dann als
zum Kongreß geladene Zeitzeugin, hat Lenka
Reinerova inzwischen literarisch verarbeitet
(Vgl. MdZ Nr.2/1996, S. 12f.)
Das Einleitungsreferat über den Stand der Exil¬
forschung zu Lateinamerika hielt Guy Stern,
gefolgt von einem Beitrag Judit Bokser Liwe¬
rants über die mexikanische Flüchtlingspolitik
mit Schwerpunkt jüdische Immigration. Diet¬
rich Rall reklamierte B. Traven als mexikani¬
schen Autor. Renata von Hanffstengel referier¬
te über Bodo Uhse, Anne Saint Sauveur-Henn
über einen Teilaspekt des argentinischen Exils,
Sylvia Pappe über Gertrude Düby und Alexan¬
der Stephan über die Überwachung der Exilan¬
ten durch US-amerikanische Geheimdienste.
Alle vier haben zu ihren Themen inzwischen
umfassende Bücher vorgelegt. Neben Beiträ¬
gen über Egon Erwin Kisch und Gustav Regler,
die wenig Neues enthalten, finden sich höchst
verdienstvolle Studien über die bislang wenig
erforschten mexikanischen Jahre des Kunstkri¬
tikers Paul Westheim, des Dichters Paul Mayer,
der Theaterregisseure Michael Flürscheim und
Fernando Wagner, der Architekten Hannes
Meyer und Max Cetto, des Komponisten Hanns
Eisler, des dänischen Kartographen und An¬
thropologen Frans Blom. Obwohl er nie den
Rio Grande überschritten hatte, drang Alfred
Döblin tief wie kaum ein anderer in lateiname¬
rikanische Geschichte und Kultur ein, wie Fritz
Pohle nachwies. Als Pionier der österreichi¬
schen Exilforschung in Mexiko gilt Christian
Kloyber, der den international renommierten
Maler Wolfgang Paalen für dessen Geburtsland
wiederentdeckte. Über Mexiko hinausgehend
wurden die Schriftstellerin Katja Hajek-Arendt
in Kolumbien, die Vorkämpferin der Psycho¬
analyse in Argentinien, Marie Langer (von der
Militärjunta vertrieben gelangte sie 1974 nach
Mexiko), die Psychologen Walter Blumenfeld
und Hans Hahn in Peru, sowie Stefan Zweig in
Brasilien gewürdigt.
Im Kontext des kulturellen Austausches ist
der Beitrag über die Beschreibung einer
Rheinreise durch den nicaraguanischen Na¬
tionaldichter Ruben Dario von Bedeutung,
ebenso jener über Albert Einstein u.a. Physi¬
ker und die Änderung ihres Wissenschaftset¬
hos als Folge des Exils.
Der einzige Wermutstropfen dieses Bandes
liegt darin, daß er im regulären Buchhandel
kaum zu bekommen sein wird. Daher gebe ich
unten auch die Adresse an, bei der man das
Buch bestellen kann.

Marcus G. Patka

Renata von Hanffstengel/Cecilia Tercero/Silke
Wehner Franco (Hrsg.): Mexiko, das wohltem¬
perierte Exil. Ciudad de Mexico: Instituto de
Investigaciones Interculturales Germano-Me¬
xicanas A.C. 1995. 335 S. 87 Abb.

(Institudo de Investigaciones Interculturales
Germano-Mexicanas

Calle 23 No. 8, 03800 San Pedro de los Pinos,
Mexico, D.F.)

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Sie war eine begnadete Photographin, eine Re¬
volutionärin und Kommunistin, außerdem eine
Schönheit — Tina Modotti, genannt Tinissima,
in Italien als Tochter eines Landarbeiters gebo¬
ren, 1913 in die USA ausgewandert, später nach
Mexiko übersiedelt, das ihr zur zweiten Heimat
wurde. Ihr weiterer Lebensweg führt sie über
das Deutschland der beginnenden dreißiger
Jahre, die Sowjetunion und das Spanien der
Bürgerkriegszeit wieder nach Mexiko zurück,
wo sie 1942 der frühe und tragische Tod ereilt.
Trotz ihrer künstlerischen Begabung und ihres
politischen Engagements wurde sie von ihren
Freunden und Feinden oft nur auf ihr Frausein
reduziert, zur femme fatale hochstilisiert und
schließlich von den Zeitumständen und dem
Widerspruch zwischen ihren künstlerischen
und politischen Ambitionen zerrieben.

Die bekannte mexikanische Schriftstellerin
Elena Poniatowska, in Paris als Tochter einer
mexikanischen Mutter und eines französischen
Vaters polnischer Herkunft geboren und somit
selbst wie Tina Modotti in mehreren Kulturen
zu Hause, hat den Lebensweg dieser faszinie¬
renden und schillernden Persönlichkeit in ei¬
nem opulenten Romanepos nachgezeichnet. Es
gelang ihr hinter der Fassade der zeitweise
hochgejubelten Künstlerin und engagierten
Aktivistin den Menschen Tina Modotti pla¬
stisch und glaubwiirdig darzustellen. Vor uns
ersteht das Bild einer äußerst sinnlichen, sensi¬
blen und anlehnungsbedürftigen Frau. Bis an
ihr Lebensende bleibt sie ihren Idealen treu.
Dem Zynismus und Opportunismus ihrer Um¬
gebung — auch dem ihrer revolutionären Mit¬
streiter — ist sie nicht gewachsen. Ihre Liebe zu
Mexiko bleibt letztlich unbelohnt, 1930 wird
sie als „unerwünschte Ausländerin“ abgescho¬
ben. Fast die Hälfte ihres Lebens verbringt Tina
Modotti im Exil.

Besonders stark ist der Roman im ersten Teil.
Tinas schwierige Beziehung zum Photographen
Edward Weston und ihre leidenschaftliche Liebe

zum kubanischen Revolutionär Julio Antonio
Mella, der an ihrer Seite in Ciudad de Mexico
vom kubanischen Geheimdienst ermordet wird,
beschreibt Poniatowska mit erschütternder Ein¬
dringlichkeit und großem psychologischem
Können. Wie Tina nach der Ermordung Mellas
für Behörden und Presse plötzlich zur Haupt¬
verdächigen wird, wie man ihr einen Mord aus
Leidenschaft unterstellt, ihr Privatleben, ihren
angeblich unmoralischen Lebenswandel vor
der Öffentlichkeit ausbreitet, ist nicht nur ein
Sittenbild Mexikos des Jahres 1929.

Im zweiten Teil verflacht der Roman. Der Autorin
gelingt es nicht immer, die Befindlichkeit und die
Lebensumstände ihrer Heldin im deutschen und
russischen Exil glaubwürdig zu schildern. So pla¬
stisch die mexikanischen Szenen sind, so sehr
merkt man, daß Poniatowska Deutschland, beson¬
ders aber Rußland nur oberflächlich oder aus
zweiter Hand kennt. Deshalb greift sie oft auf
Klischees zurück: Die Deutschen sind alle sauber,
ordentlich und reserviert, essen Würstchen und
trinken Bier; die Russen trinken ständig Tee aus
dem Samowar, tragen dicke, khakifarbene Klei¬
dung und ausgetretene Stiefel und ähneln einander
alle sehr; meistens istes kalt und der Himmel grau.
Wie sich die Heldin in Moskau ohne Sprachkennt¬
nisse so schnell und mühelos zurechtfinden und
arbeiten kann und warum die sensible Künstlerin
die Photographie aufgibt, um sich ganz dem Auf¬
bau des Kommunismus und dem politischen
Kampf zu widmen, geht aus dem Text nicht klar
hervor.

Erst am Ende — der Tod der Protagonistin wird
in erschütternder Weise geschildert — gewinnt
der Roman wieder jene Tiefe, die er über weite
Passagen vermissen läßt. Zur Qualität des Bu¬
ches tragen auch zahlreiche Photographien
Tina Modottis und anderer zeitgenössischer
Photographen (u.a. von Robert Capa) bei. Sie
sind eine gelungene Ergänzung zum Text.

An vielen Stellen hat man den Eindruck, die
Autorin habe zu viel gewollt und dadurch we¬
niger erreicht. Eine Unzahl von Personen, auch
bekannte Persönlichkeiten wie zum Beispiel
Lew Kamenew oder Simone Weil, treten auf
und verschwinden sogleich wieder. Manche
Dialoge wirken lang und unnötig. Angesichts
der (von der Autorin nicht bewältigten) epi¬
schen Breite verliert man leicht den Überblick.
Gelegentlich sinkt die Sprache ins Triviale ab,
so daß man das eine oder andere Kapitel schnell
überblättern möchte.

Daß es sich trotz alledem um ein außergewöhn¬
lich gutes Buch handelt, ist der Fähigkeit der
Autorin zuzuschreiben, gerade an den Schlüs¬
selstellen knapp und präzise zu bleiben. Und
eben diese „trockenen“ Passagen sind große

Literatur.
Vladimir Vertlib

Elena Poniatowska: Tinissima. Der Lebensro¬
man der Tina Modotti. Frankfurt/M.: Suhr¬
kamp Verlag 1996. 463 S.