OCR
kulturation im Exil darstellen. Sein Lieblingswort scheint „bric-ä-brac“ zu sein, und den Splendeur seines Stils erprobt er u.a. in einer „Käse-Orgie": „Dann kommen olivenfarbene, mumienhafte, bemooste Burschen, wie ägyptischen Königsgräbern entstiegen: ein Olivet Cendré und ein Champenois Cendré, die sich zwei, die sich vier Monde in Holzasche gewälzt haben, um ganz reif zu werden, und von einer dämonischen Herbheit sind, und aus der Nachbarschaft des ersten ein Fromage au foin, dem, wie einem Pennbruder, noch die Heuhalme ins Gesicht hängen, in denen er gelagert hat.“ (S. 88) Entsprechend bunt ist das Themenspektrum der Feuilletons: Essen, Feste, Bauwerke, Ausstellungen, Friedhöfe, politische Ereignisse, Bücher, Reisen (es sind auch Städtebilder aus Südfrankreich und zu Algier aufgenommen), Persönlichkeiten etc. geben den Anlaß der Texte ab, deren historisches Magnetzentrum erkennbar bleibt. Es ist die Französische Revolution, die den Fixpunkt darstellt, auf den auch die unterschiedlichen Entwicklungen Deutschlands und Frankreichs bezogen werden. Hermann Wendel (1884 — 1936) wurde im deutsch-französischen Grenzland in Metz zur Zeit der Zugehörigkeit Lothringens zum deutschen Kaiserreich geboren, er war ein ,,Grenzfall“, wie Joseph Roth es einmal nannte. Seine ersten literarischen Kontakte knüpfte er im Elsaß im Kreis um Otto Flake und René Schickele, bevor er an sozialdemokratischen Zeitungen mitarbeitete und 1912 als jiingster Abgeordneter in den Reichstag zog. Er verdarb es sich jedoch bald mit den diversen Strömungen der Partei, arbeitete in der Weimarer Republik für das „Tage-Buch‘“ von Stefan Großmann und die „‚Frankfurter Zeitung“ ‚schrieb eine Biographie zu Danton und im französischen Exil ein Buch zur Marseillaise. Seine Beschäftigung mit Frankreichs Geschichte mündet in die These von der demokratischen Tradition des Geistes links vom Rhein, der rechtsrheinisch aufgrund der gescheiterten revolutionären Tradition letztlich nur der Sieg der Gewalt gegenübergestellt werden kann (vgl. ,, Unter der ‘Coupole’“, S. 150ff.) In seiner brillanten Einleitung situiert Lutz Winckler Wendels Diskurs der Stadt in den verschiedenen Modellen textlicher Repräsentation (Mythologie, Musealisierung, Chronotopie, Körpertopologie u.a.), wobei sich Wendels Texte in den fast zeitgleich entstandenen Theoriesplittern des ,,Passagen"-Projekts Walter Benjamins spiegeln. Beiden eignet der enge Bezug auf das 19. Jahrhundert, der bei Wendel noch bis in die sprachliche Formulierung hinein prasent ist. Markus Bauer Lutz Winckler (Hg.): Unter der ‘Coupole’. Die Paris-Feuilletons Hermann Wendels 19331936. Tiibingen: Niemeyer 1995 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 47). 410 S. DM 98,-. Alfredo Bauers ,,Hexenprozef in Tucuman“ Alfredo Bauer — seine Geschichte: am 16. Februar 1939, dem Tag, an dem Jura Soyfer im KZ Buchenwald starb, mit den Eltern in Buenos Aires angekommen. Die Pestalozzi-Schule, die er besuchte, antifaschistisch orientiert, während sich die deutsche Kolonie in Argentinien sonst fest in den Händen der NSDAP-Auslandsorganisation und der deutschen Botschaft befand. Das Comite Austria Libre, eines von den bisher ungezählten Komitees, die die aus dem zur Ostmark gewordenen Österreich Vertriebenen in ihren Exilländern gründeten, um gegen die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland zu protestieren, um für seine Wiederherstellung zu werben: aus Anlaß des fünften Jahrestages der Gründung des argentinischen Comites wird Alfredo Bauers Chorwerk ‚Die Befreiung“ 1944 aufgeführt. Die zerbrechliche und doch stets wieder aufgenommene Kulturgemeinschaft des Exils: Ich glaube, sie hat den Schriftsteller Alfredo Bauer nicht nur durch die persönliche Erfahrung geprägt, sondern auch durch die Anforderungen, die sie an ihn stellte: Arzt, Kommunist (Mitglied der 1918 gegründeten KP Argentiniens), wissenschaftlicher Publizist auf den Gebieten der Sexologie und der Gynäkologie, Organisator, Übersetzer ins Spanische (Werke von Heinrich Heine, Peter Hacks, Felix Mitterer, Jura Soyfer), Übersetzer aus dem Spanischen, so des argentinischen ,,Nationalepos“ Martin Fierro von José Hernandez... und schöpferischer Schriftsteller, Lyriker, Erzähler, Essayist, Romancier, zuletzt sogar Librettist der im Herbst 1996 an der Wiener Kammeroper erfolgreich uraufgeführten Stefan Zweig-Oper „Aus allen Blüten Bitternis“ von Christoph Cech. Die große Vielseitigkeit im Leben und Werk Alfredo Bauers muß einfach auffallen. Sie wurde herausgefordert durch das Exil, das die gängigen Arbeitsteilungen, Abgrenzungen zwischen den verschiedenen ‘Sparten’ in Frage stellte. (Die „‚Kultur“ lag nicht mehr bereit wie ein Fächer, der bei Bedarf auf- und zugeklappt werden kann. In der Kultur des Exils entstanden Übergänge, krisenhafte Zusammenstöße, neue Verhältnisse zwischen dem persönlichen Engagement und der betriebenen Sache.) Bemerkenswert: Die Vielseitigkeit Alfredo Bauers bewirkte nicht Zerrissenheit, sondern geht bei ihm aus einer enormen Konzentrationsfähigkeit hervor — Bauer ist einer, der seine Geistesgegenwart stets bewahrt, bewahrt hat. Beinahe hätte ich vergessen, den Historiker Alfredo Bauer zu erwähnen, den Verfasser einer „Historia critica de los Judios“ (Kritischen Geschichte der Juden), den Berichterstatter über die Persönlichkeiten und die Geschichte des antifaschistischen Exils in Argentinien. In dem Buch Hexenprozeß in Tucumän treffen sich der Historiker, Essayist und Erzähler Alfredo Bauer. Entstanden ist das Buch letztendlich durch die Intervention Erich Hackls: Er hat aus den vielen Aufsätzen, Reportagen, Rezensionen, Theaterkritiken, Betrachtungen, die Alfredo Bauer im Laufe von Jahrzehnten in argentinischen, deutschen und österreichischen Zeitschriften veröffentlicht hat, ausgewählt, mit Bauer zusammen die endgültige Textgestalt erarbeitet und das ganze Werk auch noch mit einem Kommentar versehen, nämlich einer Zeittafel Argentiniens. Das Buch ist so auch das Ergebnis einer Zusammenarbeit zweier Schriftsteller, eines in Österreich lebenden und eines aus Österreich exilierten — eine exemplarische Zusammenarbeit, wie sie sich meines Wissens zuletzt vor mehr als 30 Jahren ereignet hat, als in Salzburg Theodor Kramers Auswahlband „Vom schwarzen Wein“, herausgegeben von Michael Guttenbrunner, erschien. Insofern ist das Erscheinen von Hexenprozeß in Tucumän nicht nur ein literarisches, sondern auch ein kulturelles Ereignis. Alfredo Bauer bietet uns mit seinen ,,Chroniken aus der Neuen Welt“ keine Geschichte oder Bestandsaufnahme Argentiniens. Er vermittelt uns stattdessen eine Vielzahl von Einblicken, Zugängen, deren Geburtshelfer die verschiedensten Anlässe (worunter nicht Schreibaufträge, sondern Motive zu verstehen sind) waren, angeregt durch Lektüre, Zeitungsnotizen, Beobachtungen in der eigenen Praxis eines Facharztes für Gynäkologie, historische Recherchen, Reisen. Jedoch, was alle diese lehrreichen und unterhaltsamen Geschichten und Essays durchzieht, istein unabgeschlossenes Nachdenken über das Land Argentinien, seine periphere Stellung in der arbeitsteiligen Welt der kapitalistischen Produktionsweise, seine Entwicklung als Kolonial- und Immigrationsland, dessen Bevölkerung sich seit dem 19. Jahrhundert vervielfacht hat, über die Zusammenhänge zwischen Nationswerdung und Demokratie, zwischen Zentralismus und Föderalismus. Ein Gutteil dieser von Bürgerkriegen und Ausrottungsfeldzügen gegen Indios und Gauchos versehrten Geschichte resümiert sich in dem Gegensatz, der tiefen Kluft zwischen der Handelsstadt Buenos Aires und dem gewerblichen Fleiß der Provinzen, ein Gegensatz, der auch andere Länder Südamerikas wie Peru charakterisiert. Im „Literarischen Quartett“ , welches das österreichische Fernsehen zu gewohnter Nachtstunde ausstrahlt, verkündete Marcel Reich-Ranikky unlängst dröhnend, es käme nicht auf das stoffliche Interesse an den Lebensverhältnissen in einer bestimmten Zeit, einem Land, einer Stadt an, sondern auf die Gestaltung des Menschlichen (sozusagen durch all die Besonderheiten hindurch). Das klang nach Hegels „Vorlesungen zur Ästhetik“, wo doch das Schöne als das Hindurchscheinen der Idee durchs Stoffliche gefaßt ist, und zwar in der Weise, daß die Idee die Materie ergreift, organisiert, durchwärmt. Reich-Ranickys Idee wäre demnach das Menschliche, jenseits aller Besonderheiten, das Allgemein-Menschliche, und wer es nur immer ordentlich zur Geltung bringt und die literarischen Techniken richtig anwen37