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det, der hat der Kunst genug getan. Auch ein Alfredo Bauer würde sich den Einflüsterungen jener großen Philosophie, die auf dem Humanismus der europäischen Aufklärung beruht, nicht verschließen. Doch sein Begriff des Schönen ist bestimmt durch das Wissen, daß der Mensch immer erst wird und werden soll. Und dieses Werden vollzieht sich unter konkreten, zugleich beengenden und ermöglichenden Bedingungen. Er ist hierin lateinamerikanischen Autoren nahe, denen der Mensch auch anthropologisch kein abgeschlossenes Wesen ist. (Er muß noch etwas werden.) In dieser Perspektive fallen das Interesse am „Stoff“ und am „Menschlichen“ zusammen. Die besonderen Verhältnisse der Zeit, des Landes, des Ortes sind nicht bloß Kulisse oder Requisit für die ‚Gestaltung des Menschlichen“. Beherzigenswert ist auch die Respektlosigkeit, mit der Alfredo Bauer mit den Nationalheiligen der Geschichte Argentiniens umspringt, eine Respektlosigkeit, die nicht aus der flüchtigen Berührung resultiert, die, was sie benennt, sogleich anonymisiert, sondern Ausdruck eigener Souveränität und gegründeter Kenntnis ist. Wenngleich die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Argentiniens seit den 1970er Jahren als eine einzige Katastrophe erscheint — an der wir die Auswirkungen des vielgerühmten Neoliberalismus praktisch studieren können -, wirft Alfredo Bauer den Faden des geschichtlichen Zusammenhangs, der Vergangenes und Zukünftiges in offener Spannung verbindet, nicht weg. Ich persönlich bin, Alfredo Bauer lesend, tief enttäuscht, daß wir, die österreichischen SchriftstellerInnen, im sogenannten Milleniumsjahr 1996 kein solches Buch über Österreich zustande gebracht haben wie Alfredo Bauer über Argentinien: kritische Revision der Vergangenheit, lebendige Auseinandersetzung mit der Gegenwart, ein Blick auf die im Alltag geschiedenen Lebenssphären, der diese nicht zu tristen Milieus auseinanderdividiert. Es scheint wohl, wir haben zu viel und zugleich zu wenig Respekt vor unserer Geschichte. Aber Respekt gibt es auch bei Alfredo Bauer. Respekt vor der „Hexe“ Luisa Gonzäles, einer India, die unter schwerster Folter nicht gestand, die Hexerei auszuüben. Das war 1688. Sie ehrt Alfredo Bauer: „Denn wir alle“, schreibt er, „stehen in der Schuld derer, die Verfolgung gelitten oder gegen sie Zeugenschaft abgelegt haben. Ihr Leiden und ihr Mut tragen trotz allem dazu bei, daß eines Tages Licht und Recht über die Mächte der Finsternis triumphieren.“ Da ich die Buchreihe, in der Hexenprozeß in Tucumän erschienen ist, zusammen mit Siglinde Bolbecher koordiniere, möge man diese Rezension nicht als wie immer objektive Kritik nehmen, sondern als einen kleinen Bericht über die Motive meiner Gewogenheit für Alfredo Bauers Buch. Konstantin Kaiser Alfredo Bauer: Hexenprozeß in Tucumän und andere Chroniken aus der Neuen Welt. Hg., mit 38. einer Vorrede und einer Zeittafel versehen von Erich Hackl. Wien 1996. 275 S. 6S 298,-. (Buchreihe ‚Antifaschistische Literatur und Exilliteratur — Studien und Texte“. Hg. vom Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur. Redaktion: S. Bolbecher, K. Kaiser.) Der antifaschistische Widerstand und das Buch ,,Der lachende Sand“ von Tusia Herzberg Im Foyer des Schauspielhauses in Wuppertal findet im Januar 1997 eine Ausstellung ,,Deutsche in der Résistance, Dokumentation des Widerstandes Deutscher gegen den Hitlerfaschismus in Frankreich statt. Die Ausstellung wurde durch den Wuppertaler Pädagogen Dirk Krüger initiiert, Vorstandsmitglied des „Studienkreises Deutscher Widerstand“. Krüger sagt zu dieser Ausstellung, die in einem Zusammenhang mit der Aufführung von Peter Weiss’ „Die Ermittlung“ und seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ steht: Es werde — rund um die Aufführung des Stückes „Die Ermittlung“ — viel über den Holocaust, über die bestialischen Verbrechen der Faschisten an den Juden diskutiert. Das sei das Hauptanliegen der Inszenierung, denn es gehe heute noch immer darum ‚Wider das Vergessen“ zu arbeiten. Aber es dürfe eine andere Tatsache dabei nicht übersehen werden: Es gab auch viele Deutsche, darunter auch viele deutsche Juden, die gegen den Hitlerfaschismus Widerstand geleistet haben, die ihr Leben dafür gegeben haben. Das Buch von Peter Weiss, so Krüger, ziele grundsätzlich auf den Widerstand gegen Unrecht und Diktatur. Widerstand gegen Unrecht und Diktatur findet überall dort statt, wo sich Menschen nicht beugen wollen, auch wenn der Kampf gegen die gewaltige Übermacht aussichtslos scheint. Am bekanntesten ist der jüdische Widerstand im Ghetto Warschau. Aber wer die ungeheure Zahl jüdischer Menschen verurteilt, die im Holocaust umkamen, ohne sich zu wehren, weiß nicht, wovon er spricht, denn er kennt nicht die gewaltige Vernichtungsmaschine Hitlerdeutschlands. Nur vereinzelte Gruppen jüdischer Jugendlicher wagten es, in den Widerstand zu gehen, sie „wagten“ es zu überleben, was nicht allen gelang. In meinen Händen ist Tusia Herzbergs Buch „Der lachende Sand“ mit dem Untertitel ,,Junge Jüdische Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg“. Herzberg erzählt ihre, ihrer Familie und ihrer Freunde Geschichte. In Bendzin in Oberschlesien geboren, absolvierte sie das dortige jüdische Gymnasium. Als sie mitansehen muß, wie ihr Vater aus dem Ghetto von Bendzin in den Weg zum Tod abtransportiert wird, schließt sie sich einer Gruppe zionistischer Jugendlicher an, „um Widerstand gegen Gewalt, Entrechtung und Entmenschlichung zu leisten“, wie es Armin A. Wallas ausdrückt. Sie drucken Flugblätter, beschaffen Waffen, fälschen Dokumente, um Verfolgten das Leben zu retten, helfen Gefährdeten illegal über die nächste Grenze in die Slowakei. Im August 1943 gelingt es Tusia mit ihrer Mutter und ihrem Bruder über die Slowakei nach Budapest zu fliehen. Zuerst glaubt sie in Budapest verhältnismäßig sicher zu sein. Aber im März 1944 wird Ungarn von der deutschen Armee besetzt. Unter Leitung Adolf Eichmanns werden die Juden in die Vernichtungslager deportiert. Mehr als 450.000 Juden aus Ungarn werden ermordet. Im Winter 1944/45 fallen noch 20.000 dem verstärkten Terror zum Opfer. Tusia und ihre Gruppe nehmen Kontakt zur ungarischen zionistischen Jugendorganisation auf, warnen die ungarischen Juden vor der drohenden Gefahr, beschaffen sich Waffen, führen Sabotageakte aus, fälschen Dokumente, richten Verstecke ein und helfen Fluchtrouten zum Hafen Konstanza am Schwarzen Meer zu organisieren, von wo die Flüchtlinge auf Schiffen illegal nach Palästina weiterfuhren. Die Gruppe tarnt sich. Tusia, mit der nichtjüdischen Identität einer Krankenschwester des polnischen Roten Kreuzes, hilft manche Gefangene zu retten, doch viele Mitglieder der Gruppe werden gefaßt, gefoltert und getötet. Die Widerstandsgruppe sorgt für die Eltern der Freunde, die in Aktionen umgekommen sind. Die Lage der Gruppe ist besonders schwierig und gefährlich, weil sie ohne Rückhalt in der Bevölkerung arbeiten muß. In allen Ländern kämpfen Widerstandsgruppen an einem bestimmten Ort, aber diese Gruppe mußte sich in Polen, Österreich, der Slowakei und Ungarn immer neuen Bedingungen anpassen. Tusias Bruder Alexander Gutmann, der verraten wird, erlebt das Wunder, einige Stunden vor seiner Hinrichtung von der Roten Armee befreit und gerettet zu werden. Der andere Bruder Bernhard ist schon vor dem Krieg nach Palästina gefahren, um an der Universität Jerusalem zu studieren, wo er auch Vorsitzender der Studentenvereinigung wird. 1942 meldet er sich zur British Air Force. Nach der Befreiung hatte Tusia das Glück, daß ihr Mann Shalom Konzentrationslager und Todesmarsch überlebt hat. Er arbeitet nach 1945 eine Zeitlang für die US-Army und dann bis zur eigenen Auswanderung nach Israel für die illegale Allija der Holocaust-Überlebenden nach dem damaligen Mandatsgebiet Palästina. Der Bruder Alexander, erst 17 Jahre jung bei Beendigung des Krieges, studiert nach Nachholung des Abiturs in Wien und ist zwei Mal Präsident der jüdischen Studentenvereinigung Österreichs. Heuer, im Mai 1997, findet ein Kongreß der jüdischen Akademiker Österreichs zum Andenken an den Verstorbenen Alex GutmanGatmon statt, ihren ‚legendären Präsidenten“, wie sie schreiben. Alex geht 1948 nach Israel, wo er in der israelischen Armee Karriere macht und Anfang der 60er Jahre die Einwanderung der marokkanischen Juden nach Israel organisiert. Auch Tusia, ihr Mann und ihre Familie ereichen das Ziel ihrer Sehnsucht: Israel.