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Erich Hackl Verlustanzeige 1997 war ein böses Jahr, das Jahr der verlorenen Freunde: Im März ist Toni Lehr gestorben, im April Elsa Leichter und Ruth Fischer, im Oktober Franz Kain, im Dezember Leopold Spira. Summiert man ihr Alter, kommt man auf 421 Jahre - so lange dauert unser Jahrhundert. Zieht man auf der Landkarte Linien zwischen ihren Geburtsorten (einmal Posern, einmal Brünn, dreimal Wien) und den Stationen ihrer Kämpfe, ihren Fluchtpunkten sowie den Stätten ihrer geplanten Auslöschung oder Verwahrung, dann verschwinden die Konturen Europas, des Maghreb und der Vereinigten Staaten von Amerika unter einem dichten Netz von Strichen: Moskau, Prag, Paris, Brüssel, Berlin, Basel, Barcelona, Teruel, Saint-Cyprien, Gurs, Isle of Man, London, Leicester, Glasgow, Auschwitz, Ravensbrück, Stockholm, Antwerpen, Nimes, Neapel, Tunis, Oran, Casablanca, Aliceville, Fort Devens, Fort Kearney, Ellis Island, Boston, New York... Bis auf den Jüngsten unter ihnen, den Schriftsteller Franz Kain, dessen Romane und Erzählungen zwischen Linz und Goisern entstanden sind, waren sie bis ins hohe Alter unermüdich Reisende. Toni Lehr zum Beispiel traf ich eine Zeitlang nur in den Transithallen und Zubringerbussen europäischer Flughäfen. Elsa Leichter, die als einzige das Exil der Rückkehr nach Österreich vorgezogen hatte, war neunzig, als sie während ihres obligaten Urlaubs im Salzburger Land zum letzten Mal zum Loferer Wasserfall wanderte. Ruth Fischer und Poldi Spira entsagten erst vor wenigen Jahren ihrer großen Leidenschaft, dem Skifahren. Franz Kain starb über seinen Manuskripten. Fünf erfüllte Leben also, ein Trost. Mich tröstet auch, daß sie älter wurden als jene, die ihnen nach dem Leben getrachtet hatten; mich tröstet, daß sie so starben, wie Menschen sterben sollen: im Bett, im Kreis der Angehörigen, oder sekundenschnell. Sie starben nicht den Tod, der ihnen — Feinden und Verfolgten des Naziregimes - einst zugedacht war, in der Gaskammer oder am Galgen, unter der Folter oder im Kugelhagel. Drei Trostpflaster, aber darunter der brennende Schmerz des Verlustes: Die Lücken, die sie hinterlassen, bleiben mir als Lücken bestehen - es sei denn, ich hielte es mit jenem Wiener Historiker, der davon schwärmte, daß mit dem Verschwinden der Überlebenden die Holocaustforschung eine neue Qualität gewinne, weil sie nun frei von störenden emotionalen Ausbrüchen sei. Oder ich stünde den vom Leninismus zum Neoliberalismus konvertierten Epigonen des Zeitgeistes nahe, die jeden Kommunisten so gern in Beugehaft nähmen, statt sich selbst für ihr ekelhaftes Kalkül zu ohrfeigen. Mich beruhigt auch nicht die Aussicht auf das angebrochene Jahr — es wird uns noch mehr Freunde nehmen, weil die Menschen, die die sozialen Kämpfe unseres Jahrhunderts ausgefochten haben, mit Poldi Spira gesagt, biologisch am Ende sind. Die hinter ihnen aufrücken, können wir guten Gewissens vergessen. Die sind bestenfalls erfolgreich, tüchtig, effizient. Toter als tot. Über Poldi Spira zu sprechen, heißt zu allererst, von anderen zu sprechen. Die eigene Person war ihm nur wichtig, als sich in ihren Erfahrungen allgemeine Erfahrungen spiegelten. Spira, soviel für die Ignoranten, ist 1913 in Wien geboren, stieß früh zur sozialdemokratischen Jugendbewegung, trat unter dem Eindruck der Niederlage im Februar ‘34 der illegalen KP bei, wurde wegen seiner politischen Tätigkeit verhaftet, verurteilt und von der Universität relegiert. Im Februar 1938 freigelassen, schloß er sich in Spanien den Internationalen Brigaden an. Nach der Niederlage der Republik fand er Zuflucht in Großbritannien, wo er seine spätere Frau Eva Zerner kennenlernte und wo die beiden Töchter Toni und Liesl zur Welt kamen, denen ein streng monarchistisch gesinnter Standesbeamter die Namen der Königstöchter Elizabeth und Margaret verpaßte. Nach der Rückkehr aus dem Exil war Poldi als Propagandist der KP tätig, die er nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings verließ. Er arbeitete in einem Meinungsforschungsinstitut, dann, schon als Pensionist, als Redakteur des ‚Wiener Tagebuch“ , das für einen dritten Weg zum Sozialismus eintrat, jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus. Am Weltgeschehen hat er bis zuletzt grimmig Anteil genommen. Von den Zeitungsausschnitten, mit denen er mich hin und wieder versorgt hat, trage ich den letzten immer noch in meiner Aktentasche herum. Es handelt sich um den Abdruck eines Interviews, das der Journalist Daniel Haufler mit dem marxistischen Historiker Eric Hobsbawm geführt hatte und dessen Titel auf alle meine Toten, und im besonderen auf Poldi Spira, zutrifft: ‚Ich bin auf der Linken... da ist nichts mehr zu machen“. Eine Wiener-jüdische Familienchronik Als Leopold Spira zu Beginn der 90er Jahre seine politische Biographie ‚„‚Kommunismus adieu“ zunächst einem linken, sozialkritischen Verlag zur Publikation anbot, wurde sein Manuskript abgelehnt: den sich zum Perestroika-Flügel zählenden KPÖ-Verlagsmenschen waren die Aussagen politisch zu oberflächlich, den linken Sozialdemokraten zu wenig rigoros in der Abrechnung. Vielleicht spielte dabei im Untergrund ein psychologisches Gemisch aus dauerhaftem Mißtrauen und Sühneanforderungen mit, denen der kommunistische Dissident scheinbar nicht ausreichend entsprechen konnte. Unter Zusammenarbeit verstand man ein paralleles Nebeneinander, und Spira berührte durchaus Gemeinsames, über das man weiterdiskutieren hätte müssen ohne die monströse Schleppe des Rechthaberstandpunktes. „Man kann keine persönliche Verantwortung empfinden“ schrieb Zden&k Mlynéf in seinem Nachwort zu „Kommunismus adieu“, um die unterschiedlichen Erfahrungsgehalte von Kommunisten westlicher Parteien und jener der sozialistischen Staaten festzuhalten. Wenn man eine Gesellschaft nicht unmittelbar beinflussen kann und an deren Entwicklung nicht unmittelbar beteiligt ist, die Partei, der man angehört, nicht an der Spitze einer Diktatur mit Machtmißbrauch und Verbrechen stand, dann ,,brennt eine Wunde“, wie es der langjährige Freund und politische Gefährte Spiras Franz Marek nannte, um jenen quälenden Widerspruch zwischen eigener 3