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dem 20. Wiener Gemeindebezirk, der Rabbiner werden wollte und schließlich als Kellner in einem kleinen verstaubten Kaffehaus in der Wallensteinstraße landete. Oder die Hutmacherin Finnerl, die selbst in der subtropischen Yunga-Region Boliviens an die Steiermark denkt und überall ihre Umgebung mit der Heimat vergleicht und gleichsetzt. Kalmar stellt seine Charaktere mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen dar. Es sind durchwegs Menschen, die hier wie dort, in Österreich wie im bolivianischen Exil, zu den „einfachen“ Leuten gehören, Menschen ohne große Lebensentwürfe, ohne besondere Begabung. Kalmar klagt nie an, verurteilt niemanden, und gerade dadurch wird der nationalsozialistische Rassenwahnsinn in seiner Menschenverachtung deutlich. Die Kritiken auf dieses Buch waren einhellig sehr positiv. Die Tatsache, daß der heimatvertriebene Österreicher seine Umwelt so freundlich und liebevoll beschreiben kann, führt Kalmar selbst auf einen langjährigen Wandlungsprozeß zurück. Erst spät in meinem Leben habe ich gelernt, aber dann gründlich: Wenn man den Menschen offen und unbefangen entgegentritt, so kommen sie einem genauso entgegen. Und so habe ich sie mit der Zeit in ihrem menschlichen Wert kennen- und schätzen gelernt und habe auch gelernt, ihre Fehler zu verstehen. Vor allem weiß ich um meine eigenen Fehler. Durch diese Schulung des Lebens habe ich erfahren, was Menschen eigentlich sind, und eine Liebe zu ihnen gefunden. Fritz Kalmar entstammt keiner orthodoxen Familie. Doch kurz vor seiner Auswanderung besuchte er eine Synagoge. Und heute noch erinnert er sich ganz genau an einen Satz des damaligen Oberrabbiners von Wien, Dr. Taglicht: „Schaue mit deinen Augen, höre mit deinen Ohren und richte dein Herz auf alles, was sich dir zeigt, sagt Gott.“ Das klingt wohl banal, gesteht der alte Herr ein, ,,doch wenn man ein bißchen näher hinhört, so enthüllt sich ein tieferer Sinn: die Mittel, die einem Gott geschenkt hat, sind zu dem Zweck einzusetzen, zu dem sie einem gegeben wurden.“ Wir gehen langsam die Kärntnerstraße hinauf — der Exilösterreicher, der seine Heimat über alles liebt, auf einen kunstvoll geschwungenen Stock gestützt. Vielleicht ist es das liebevolle Herz, das in Kalmars Gesicht strahlt, daß ihn ein entgegenkommendes Mädchen anlächelt. Fritz Kalmar lächelt zurück und bemerkt zu mir: „Wie schön, wenn sich zwei Menschen anlächeln, die sich noch nie gesehen haben.“ Fritz Kalmars Buch Das Herz europaschwer. Heimwehgeschichten aus Südamerika. Mit einem Nachwort von Ursula Seeber ist 1997 im Wiener Picus-Verlag erschienen. Susanne Wedekind yy. Schreibend die Realität zu ertragen“ Über Jurek Becker Einer der profiliertesten Autoren deutscher Literatur, der sich in seinen Werken wiederkehrend mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Folgen auseinandersetzte, ist der im März dieses Jahres verstorbene Jurek Becker. Gerade er aber entzieht sich wie kaum ein anderer jeder Zuordnung, sowohl was seine Biographie als auch seine literarischen Arbeiten betrifft. Daß ihn viele für einen deutschen Schriftsteller hielten, meinte er einmal, sei Ergebnis mehrerer Zufälle. Seine Muttersprache war nicht deutsch, sondern polnisch, und er war jüdischer Herkunft. Das bedeutete für ihn bereits in frühester Kindheit eine permanente Lebensbedrohung, zunächst im Ghetto von Lodz, später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen. Nach der Befreiung aus dem KZ fand ihn sein Vater, der einzige weitere Überlebende der Familie, über eine amerikanische Hilfsorganisation und siedelte sich mit ihm im Norden Ostberlins, in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands an. Die traumatische Erfahrung der Lagerjahre war in der Erinnerung Beckers völlig verschüttet. Im Frühjahr 1945 war er ein fremder, sprachloser Junge. Wissen Sie, ich war irgendwie Kaspar Hauser, ich war in diese Welt gefallen mit acht Jahren. Und keiner hat mir erzählt, bis auf ganz dürftige Informationen, was ich für einer bin und was mit mir los ist und wo ich herkomme.? Jedenfalls hatte der Junge das Bedürfnis, sich von seinen deutschen Altersgenossen nicht zu unterscheiden, und lernte deshalb schneller und besser deutsch als alle anderen. Mit dieser außergewöhnlichen Beziehung zur deutschen Sprache legte er wohl die Grundlage zu seiner späteren schriftstellerischen Profession. Farbe und Charme. Aber ihr soziales Gefühl ließ sie nicht vergessen, die Clochards, die Fischer an der Seine und die ärmeren Viertel von Paris mit den einfachen Leuten zu malen anstatt der eleganten Boulevards. 1930 übersiedelte die Familie nach Düsseldorf, wo Dr. Marcus eine wichtige Stelle im Innenministerium erhielt. Die drei Jahre 1930-33 waren K.E. Marcus’ gliicklichste Jahre. Sie wird als Portrait- und Kindermalerin bekannt. 1933 emigrierte die Familie über Großbritannien nach. Palästina. K.E. Marcus’ Selbstbildnisse, in dieser Zeit gemalt, sind besonders ausdrucksstark. Die Ereignisse der Zeit finden ihren unmißverständlichen Ausdruck in den Gesichtszügen, die von Verlust und Verzweiflung zeugen. Ein Bild, in welchem sie mit dem Malpinsel in der Hand und einem Blick nach oben versucht, mit der bloßen Hand die Decke zu stützen, heißt: „Die Decke stürzt auf mich ein.“ Der Malpinsel symbolisiert die Kunst, die ihr die Stärke gibt, in einer für sie einstürzenden Welt zu überleben. Ein anderes Bild, ,,Schrekken“ benannt, spiegelt das Trauma der Flucht aus Deutschland und der schwierigen Eingewöhnung im neuen Land. Die Akkulturation in Palästina fiel K.E. Marcus und ihrem Mann schwer. Sie eröffneten eine Pension in Jerusalem, und Frau Marcus, die an ein komfortables Leben gewöhnt war, führte den Haushalt Fortsetzung folgende Seite 13