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und kochte für die Gäste. Trotz ihrer zionistischen Einstellung fühlten sie sich als Emigranten, als Personen, die aus ihrer Kultur entwurzelt waren. Die Sprache, die sie nicht verstanden, die neue Umgebung, der andere Lebensstil bildeten objektive Hindernisse für diese künstlerische Frau. Ihre eigenen Schwierigkeiten ließen sich mit den Problemen von Neueinwanderern, speziell von Frauen, identifizieren. Sie malte diese Frauen häufig und schuf später Skulpturen nach ihnen, immer mit dem Ausdruck der emotionellen Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung in ein neues Land. Diese Bilder zeigen ihre tiefe Anteilnahme an der Not und der Einsamkeit der Menschen, die sie malte, Einsamkeit als Teil der menschlichen Existenz. Im Jahre 1943 erfüllte sich K.E. Marcus einen lebenslangen Traum: Sie eröffnete ein Studio in der Altstadt von Jerusalem neben einem Armenier, der einen Brennofen hatte und ihr bei ihren ersten Skulpturen half. Am Vorabend des israelischen Unabhängigkeitskrieges mußte sie aus ihrem Studio evakuiert werden — unter Zurücklassung aller ihrer Arbeiten aus dieser Zeit. Diese wurden von den Arabern verbrannt. Die Unruhen vor dem Unabhängigkeitskrieg, die Belagerung von Jerusalem und der Krieg erweckten in ihr Schreckensbilder aus der Vergangenheit. In dieser Zeit malte sie Bilder, in welchen die Schrecken aller Kriege zusammentrafen: der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Todeslager in Europa und der Krieg in Israel. Für sie war es „WIEDER KRIEG“. Während eines Waffenstillstandes wurde die Familie aus Jerusalem evakuiert und zog nach Ramat Gan. Hier begann eine zuversichtlichere Periode ihres Lebens, die sich in ihren Bildern mit helleren Farben und einem freieren Stil manifestierte. Sie und ihr Mann reisten viel durch das Land, und sie gab ihre Eindrücke in den Bildern wieder. Es war ein neues Kapitel in ihrem Leben mit vielen Ausstellungen in Israel und im Ausland, die ihr Mann organisierte, der ihr Manager geworden war. K.E. Marcus starb 1970. Ihre Bilder erzählen von ihrem Leben und von der Zeit, in der sie lebte, von Verlust und Leid, von Krieg und Entwurzlung. Aber sie erzählen auch von der Kraft der Kunst, diese Ereignisse zu verarbeiten und sie zu überwinden. Hanna Blitzer 14 Ohne Diskriminierungen in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR aufgewachsen und eine ziemlich typische DDR-Nachkriegsbiographie (mit Abitur, Wehrdienst, SED-Parteimitgliedschaft und Hochschulstudium) aufweisend, hatte Jurek Becker dennoch Zeit seines Lebens mit seiner Zugehörigkeit Schwierigkeiten. Aufgrund der totalen Amnesie seiner ersten Lebensjahre stellte sich für den jungen Becker sehr früh die Frage seiner Herkunft: Wenn du nicht weißt, wo du herkommst, ist es ein wenig so, als ob du ein Leben lang mit einem Rucksack rumläufst, mit einem Sack auf dem Rücken, ohne zu wissen, was da drin ist. Das ist ein sehr unangenehmer Zustand, und die Beschäftigung damit ist Jast schon eine lebenslange Beschäftigung — die Bemühung herauszukriegen, was in diesem verfluchten Sack drin ist, den ich da auf dem Rücken habe? Schreiben, um sich selbst auf die Spur zu kommen, zu erforschen, wer man ist, warum man so ist und was geschehen ist. Zwei thematische Komplexe sind es, denen er in seiner künstlerischen Spurensuche kontinuierlich nachging: zum einen seiner jüdischen Herkunft und zum anderen seiner Sozialisation im realen Sozialismus der DDR. Aus diesen Spannungspolen entwickelte sich sein vielschichtiges Werk aus Romanen, Erzählungen, Drehbüchern, Reden, Vorlesungen, Essays oder auch aktuellen Stellungnahmen zur deutschen Tagespolitik. Es sind Fragen und Probleme des Selbstverständnisses, des immer aufs neue betrachteten, überprüften und bestimmten Standortes — als Bürger der DDR, als Künstler, als Zeitgenosse, und doch immer als ein Außenstehender -, die als variierte Themen fast alle Werke Beckers bestimmen. Um sich seinen frühesten Kindheitsjahren anzunähern und den verschütteten Erinnerungen nachzuspüren, wählte er für seinen ersten Roman als Handlungsort ein Ghetto. Dieses Werk war von ihm zunächst als Drehbuch konzipiert worden, doch die DDR-Filmproduktion DEFA hatte das Skript abgelehnt. Becker schrieb es zu einem Roman um, der 1969 im renommierten Berliner Aufbau-Verlag unter dem Titel Jakob der Lügner erschien. Es wurde ein Welterfolg. In dreizehn Sprachen übersetzt und später dann doch noch verfilmt, trug das Buch seinem Autor internationale Wertschätzung ein. Im letzten veröffentlichten Gespräch erklärte Becker, dieses Buch war “der Versuch des Hauchs einer Autobiographie“ *, eine seiner Romanfiguren sei mit Bestimmtheit er gewesen. Erzählt wird vom Leiden und vom Untergang der Juden im Ghetto während der Naziverfolgung, jedoch “nicht mit der gewohnt tränenerstickten Stimme“ °, sondern auf eine leise, eindringliche und wunderbar poetische Weise, mit melancholischem Humor und lächelnder Traurigkeit. (Diesem erzählerischen Prinzip, nämlich “den einem Stoff unangemessenen Erzählstil“® zu wählen, wird der Autor in allen seinen Büchern treubleiben.) Der Jude Jakob Heym aus dem Ghetto in einer polnischen Kleinstadt behauptet, er besitze ein Radio — was natürlich nicht stimmt, denn Radios sind für Juden bei Todesstrafe verboten — und erfindet täglich neue gute Nachrichten, die seinen Leidensgefährten die baldige Rettung vor der Vernichtung durch die Nazis verheißen. Seine wohltätigen Lügengeschichten geraten ihm damit zu einer Überlebensstrategie, die die Menschen wieder Hoffnung schöpfen läßt. Erzählt wird diese wunderbare Geschichte von einem überlebenden Berichterstatter, der den Akt des Erzählens selbst schon zu Beginn zu einem Thema des Buches macht: Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens. Entweder es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht.’ Auch am Ende des Romans spielt der Erzähler noch einmal unterschiedliche Varianten seiner Geschichte durch, um dann schließlich doch zum tatsächlichen tödlichen Ausgang der Historie zurückzukehren. Damit hält der Autor beim Leser ständig das Bewußtsein dafür wach, daß dies eine mögliche Geschichte ist - etwa im Sinne einer story —, jedoch niemals die Geschichte, als history verstanden. Jakob der Lügner ist der erste von drei Romanen Jurek Beckers, die sich mit seinem “Lebensthema“, der Verfolgung der Juden während des Nazismus und ihrem Selbstverständnis und möglichen Lebenskonzepten nach einem Überleben auseinandersetzen. In einem 1978 erstmals publizierten Aufsatz - überschrieben mit Mein Judentum? — setzte sich Becker explizit mit seiner jüdischen Identität auseinander. Sein Verhältnis zum Judentum beschrieb er als zwiespältiges. Der Vater war nicht gläubig; er sei nur sehr selten in die Synagoge gegangen, und dies auch nur, um sich mit anderen KZ-Überlebenden zum Gespräch zu treffen. Den Sohn habe er niemals mitgenommen. Eine Glaubensbasis gab es also schon für den Vater nicht. Wohl aber wurde ein anderer Aspekt für ihn identitätsstiftend: der Antisemitismus. (“Wenn es