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keinen Antisemitismus geben würde — denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?“ ?) Da Jurek Becker in seiner Umgebung nie Angriffen auf die Gruppe der Juden ausgesetzt gewesen sei, habe er auch kein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt. Er plädierte dafür, sich aussuchen zu dürfen, ob er sich dem Judentum zugehörig fühle und damit jüdische Identität als einen freiwilligen intellektuellen Entschluß anzusehen, obgleich er wisse, daß man auch der zu sein hat, für den einen die anderen ansehen. Doch räumte er noch gegen Ende seines Lebens ein, daß die jüdische Kultur in vielerlei Beziehung für ihn eine Rolle gespielt habe, er aber keinen Sinn darin erkennen könne, diesem “Geheimnis“ auf den Grund zu gehen. Das Grauen der Nazizeit wurde oft in der Literatur gestaltet, über die Folgen der Verfolgung wurde jedoch fast immer geschwiegen, so als könnte die Vergangenheit als abgeschlossen betrachtet werden und beeinflußte nicht auch die Gegenwart. In hohem Maße hatte die Extremsituation der Verfolgung und besonders der Lagerhaft, der täglichen unmittelbaren Todesdrohung zweifellos massive Einbrüche in Persönlichkeitsstruktur und Selbstwertgefühl der Opfer zur Folge. Becker war wohl der erste Autor der DDR, der sich literarisch mit den psychischen Beschädigungen und ihren Folgen für Überlebende der Nazivernichtung beschäftigte. Jorge Semprun sprach davon, daß die KZ-Überlebenden keine “Davongekommenen“ seien, sondern “ Wiedergänger“ , die den Tod nicht gestreift, sondern erlebt haben. !0 Sje können — nach Jean Améry — nicht wieder heimisch werden in dieser Welt. Von der Unmöglichkeit, mit sich selbst und der Welt wieder in Einklang zu leben, von Versuchen, neue Identitäten zu errichten und mit der nachfolgenden Generation in Beziehung zu treten, ist die Rede im Roman Der Boxer, 1976 in der DDR erschienen. Es ist ein Buch über nicht mitteilbare Erfahrungen. Zeitlich schließt das Werk an Jakob der Lügner an, die Handlung setzt 1945 nach der Befreiung ein und reicht bis ins Jahr 1973. Der Boxer ist das wohl am stärksten autobiographische Werk Beckers, und er hielt es - allerdings in einem Interview 1983! — fiir sein bestes. Man kann wohl sagen, daß das Buch etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun hat, es ist eine Reaktion darauf gewesen. Es war vielleicht der Versuch, mich um ein Verhältnis zu bemühen, als es für dieses Verhälmis zu spät war. So etwas kennt jeder: den Wunsch, etwas zu rekonstruieren, das nur noch in Trümmern und Splittern vorhanden ist. u Der Boxer ist ein Roman des Scheiterns auf allen Ebenen und verdeutlicht das Ausmaß der psychischen Schäden der Überlebenden der Nazi-Vernichtungsmaschinerie an der Geschichte der zunehmenden Vereinsamung des Aron Blank. Er hat das KZ überlebt und versucht in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR mit seinem kleinen Sohn Mark ein neues Leben. Dieser Aron Blank wird im Jahr 1973 von einem jungen Mann über sein Leben befragt. Mit Hilfe der Interviewtechnik gelingt Becker die Herstellung einer doppelten Perspektive. Auf der einen Seite fragt der junge Interviewer, möglichst um Objektivität bemüht, und macht sich ein Bild Blanks, auf der anderen steht Aron, der seine Geschichte erzählt. Und wie in Jakob der Lügner der Erzähler, so fordert in Der Boxer Aron nachdrücklich eine Unterscheidung seiner Geschichte von derjenigen, die der Interviewer festgehalten hat: Du behauptest, du hast meine Geschichte aufgeschrieben, und ich behaupte, daß du dich irrst, es ist nicht meine Geschichte. Im günstigsten Fall ist es etwas, was du für meine Geschichte hältst." Mehr noch, er hält objektive Darstellung für ganz unmöglich und besteht auf seiner subjektiven Wahrheit. (“Ich erzähl dir nicht die Nachkriegsgeschichte, ich erzähl dir, was mir passiert ist. Da wird es wohl Unterschiede geben dürfen.“ '*) Aron Blank tauscht ganz bewußt seine jüdische Identität gegen eine deutsche. So fälscht er seinen Namen: aus dem hebräischen “ Aron“ wird der germanische “ Arno“, statt Riga wählt er als Geburtsort Leipzig, und sein Geburtsjahr verschiebt er um sechs Jahre, als könne er damit die Lagerzeit auslöschen. Seine gesamte Vergangenheit will er durch Schweigen ausradieren, um seinen Sohn Mark — symbolisch sein Triumph über die Verfolger — ohne die Last des Wissens um die schreckliche Vergangenheit aufzuziehen. Doch der über eine amerikanische Hilfsorganisation wiedergefundene Junge wird gleichzeitig Arons größte Niederlage. Denn es gelingt ihm nicht, diesem Sohn - der für ihn die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellt — Lust aufs Leben zu vermitteln. Mark verläßt den Vater schließlich, flüchtet aus der DDR und geht nach Israel, wo er wahrscheinlich im Sechstagekrieg umkommt. Er geht den umgekehrten Weg, identifiziert sich mit Israel und wählt den Kampf, den Widerstand anstelle der Passivität. Damit ist Arons Schicksal endgültig besiegelt: er hat den “ Kampf gegen die K.E. Marcus: Und wieder Krieg! Foto: Tel Aviv Museum of Art 15