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in der Tat vom Opfer zum Täter, letztendlich jedoch auch ein Opfer seiner Aktion, indem er seinen Sohn als seinen (deutschen) Feind betrachtet und stirbt. Alle Charaktere, auch zahlreiche Nebenfiguren, kommen von ihrer Geschichte nicht los und unternehmen verschiedenartige Anstrengungen, um weiterleben zu können: Aron wechselt seine Identität äußerlich, kann in Wahrheit aber mit der Welt nicht mehr in Beziehung treten und erleidet mit seiner zunehmenden Isolierung einen völligen Identitätsverlust. Sein Sohn Mark hingegen, den er frei von der belastenden jüdischen Vergangenheit aufziehen wollte, entscheidet sich ganz bewußt für sein Judentum, und zwar unter dem Aspekt des Zionismus. Ein anderes Verständnis vom Judentum hingegen hat Arno Bronstein: Für ihn gibtes überhaupt keine Juden, sie sind nur eine Erfindung. Allerdings sei das Gerücht so hartnäckig verbreitet worden, daß selbst die Juden darauf hereingefallen seien. Schließlich bleibt noch Hans Bronstein, dessen Name schon signalisiert, daß er eine deutsche Identität hat, eine durch seine Sozialisation natürlich gewachsene. Dieses ihm selbstverständliche Zugehörigkeitsgefühl wird einer schweren Prüfung unterzogen, und Hans bestätigt die gefühlsmäßige Bindung noch einmal intellektuell. Damit unterstreicht auch Jurek Becker noch einmal seine Überzeugung und bestätigt seine theoretischen Überlegungen aus Mein Judentum: Es gibt sie nicht, die eine Wahrheit, und es gibt sie nicht, die eine jüdische Identität. Sie kann viele unterschiedliche Aspekte haben, ethnische oder religiöse, jüdische Identität kann sich aus der Verbundenheit mit Israel ergeben — wie bei Mark Blank — oder aus der persönlichen Biographie, aus Verfolgung und Überleben - so für Aron Blank und Arno Bronstein - resultieren. Und auch der Einfluß des Landes, in dem man aufwächst und lebt, kann so stark sein, daß er andere Bindungen löst, was die Figur des Hans Bronstein zeigt. Nach dem großen Erfolg von Jakob.der Lügner galt Becker als der Experte für Jüdisches, und das wollte er auf keinen Fall sein. Um solchem Schablonendenken entgegenzuwirken, schrieb er ein “Trotzbuch“ !’, wie er es nannte. Becker wandte sich einer Problematik zu, die ihn in fast allen weiteren Romanen und Erzählungen beschäftigte. Es sind Fragen des Verhältnisses zwischen Individuum und realsozialistischer Gesellschaft. Bis 1968 war Becker ein überzeugter Sozialist und schwamm auf einer “Woge von Einverständnis“ '® mit der DDRFührung. Dann aber, mit der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die WarschauerPakt-Truppen, wuchs seine Distanz zum Staat. Es dauerte nur noch wenige Jahre, bis er die DDR verließ. 1973 erschien im Rostocker Hinstorff Verlag Jurek Beckers zweiter Roman Irreführung der Behörden. Nebeneinanderher laufen in dem Roman zwei Geschichten, die sich in Ostberlin zwischen 1960 und 1967 ereignen. Zum einen geht es um die Entwicklung des Studenten Gregor Bienek zu einem jungen, begabten Schriftsteller. Er wird bekannt und wohlhabend, doch leider auf Kosten seiner gesellschaftskritischen Potenzen. Bieneks Erfolgsstory ist die prosaische Geschichte eines Anpassungsprozesses an die zentral gesteuerten Vorgaben der DDR-Kulturpolitik. Andererseits liest sich der Roman auch als Geschichte einer großen Liebe, die immer aufs neue errungen werden muß. In dem Maß, wie Bienek nämlich aufgrund seiner Trägheit und Bequemlichkeit den Wünschen vonVerlagslektoren oder Fernsehdramaturgen nachgibt, gerät seine Ehe in Gefahr und droht zu zerfallen. Der Roman wirkt skizzenhaft, die gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR, der Alltag erscheint immer wieder gebrochen durch eingestreute humoristische Erzählungen der Hauptfigur. Auch dies schon eine Geschichte des Scheiterns, der Kapitulation? Jedenfalls eine erster ernüchternder Bericht von der Selbstbehauptung eines Künstlers in der DDR, dem es wohl eben gerade “an der undefinierbaren Fähigkeit, bis auf den Grund der Dinge zu sehen“ 2 mangelt. Im November 1976 wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert, und das war Signal für das Ende einer in den siebziger Jahren praktizierten gelockerteren Kulturpolitik. Jurek Becker gehörte zu den gegen die Ausbürgerung protestierenden Künstlern und wurde aus der SED ausgeschlossen. Aus dem Schriftstellerverband der DDR trat er 1978 aus und verließ die DDR mit einem langjährigen Dauervisum. Nach längeren USA-Aufenthalten siedelte er sich in Westberlin an. In der DDR-Literatur der späten siebziger und achtziger Jahre tauchte ein Sujet auffallend häufig auf: Durch geringfügige Anlässe geraten Figuren in eine existentielle Krise, die sowohl ihr privates als auch gesellschaftliches Leben umfaßt und sie in eine Außenseiterstellung bringt. So geschieht es etwa in Erich Loests Es geht seinen Gang oder auch Monika Marons Flugasche. Auch Jurek Becker griff dieses Thema in einem neuen Roman auf. Im Jahr 1978 erschien das in der DDR nicht veröffentlichte Buch Schlaflose Tage im Frankfurter Suhrkamp Verlag. Der Lehrer Simrock im Ostberlin der 70er Jahre zweifelt an der Sinnhaftigkeit seines zur Routine gewordenen Lebens, sowohl Beruf als auch Ehe sind erstarrt. Er verläßt die alten lichkeit weggenommen haben mag, aber ich weiß, daß die Flüchtlinge, die in Holland verblieben sind, nicht überlebt haben“ , bekennt sie in der Titelgeschichte. ‚‚Ungewissen Ursprungs“ empfindet sie ihre Herkunft und sucht nach Bruchstücken der Erinnerung. Das Gastland ist ihr nicht zur Heimat geworden. „Ich habe schon zwei Drittel meines Daseins in Großbritannien zugebracht, es ist ein schönes Land — ich verdanke diesem Land mein Leben. Daß ich mich da nicht zu Hause fühle, liegt an mir, ich bin nirgendwo zu Hause. Mir ist ja kein Ort verlorengegangen, sondern eine Entwicklung — und eine Generation.“ Um auf diese Fragen für sich eine Antwort zu finden, bedient sich Stella Rotenberg der Literatur. Zwei Zyklen beinhaltet der Band ihrer gesammelten Prosa, einerseits den biographisch bestimmten Zyklus ‚„Ungewissen Ursprungs“, andererseits „Als meine Mutter...“ , Erinnerungen aus der Jugend von Stella Rotenbergs Mutter, wobei auffällt, daß in diesen Geschichten jegliche Bezüge einer jüdischen Identität oder Hinweise auf eine jüdische Tradition fehlen. Armin A. Wallas versuchte eine Deutung: „Die Ermordung der Mutter wird zum Trauma der Lyrikerin, die in ihren Gedichten das Geschehen zu benennen und zu beschreiben sucht und ihre Literatur als Trauerarbeit versteht. Das Gedenken an die Mutter vollzieht sich in der Mutter-Sprache Deutsch, die ihr — auch — zum Mutter-Ersatz wird. In ihrem in den 80er Jahren entstandenen Prosazyklus ‘Als meine Mutter...” sucht sie einen neuen Zugang zum MutterImago. Der Wechsel der Gattungen erleichtert ihr die Literarisierung und Mythisierung der Mutter-Beziehung. Anders als in den Gedichten, die die Ermordung der Mutter thematisieren und das Trauma der Tochter in Sprache fassen, führt der Prosazyklus in die Kindheit einer — literarisch verfremdeten — Mutter-Figur.“ Stella Rotenbergs literarisches Lebenswerk ist zwar schmal, dennoch ist es eine Bereicherung im Begreifen dessen, was es hieß, die Heimat zu verlassen und ins Exil zu gehen. Manfred Chobot Stella Rotenberg: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Hg. und mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 1997. 93 S. OS 150,/DM 21,60. 17