OCR
der Hühner durch den Rabbiner, dessen Zeugin sie wurde. Was das Heimatgefühl betrifft, so scheint sie es unter dem Einfluß ihres Vaters, der nach dem Krieg nach Wien kam, entwickelt zu haben. Ihre Mutter, die aus der Emigration in Israel ins Nachkriegs-Österreich zurückkehrte, habe diesen Aufenthalt dagegen als lediglich provisorisch und temporär aufgefaßt. Auf sie trifft auch zu, was die Tochter in Unzugehörig generell für die Juden im Österreich nach 1945 feststellt: „Eine innere Entscheidung dafür, ein klares Ja zum Hierbleiben gab es nicht.“ (Beckermann 1989, S. 102f; 1987) Die Identität des Kindes prägte dieser Umstand dahingehend, daß es zunehmend „das Leben im Land der Mörder und in der Nähe der Toten ... [als] einen paradoxen psychischen Vorteil“ aufzufassen begann. Es wirkte ‚‚wie eine Garantie des Nicht-Vergessens ...“ (Beckermann 1989, S. 126) Und da war noch ein Grund: „In gewisser Weise“ , glaubt Beckermann, schütze der Antisemitismus „vor der Konfrontation mit der Überlebensschuld und vor der unerträglichen Frage nach dem Sinn des Lebens nach dem Überleben.“ (Beckermann 1989, S. 127) Ruth Beckermann, Jüdin und Frau, verbindet wie Anna Mitgutsch (1995, S. 17£.)* mit der Besinnung auf das Judentum keine feministische Position. Nur im Negativen gebe es „eine Verbindung zwischen Feminismus und Antisemitismus, bei Weininger und auch bei anderen. Es gibt aber auch den Antisemitismus in der Frauenbewegung und den Antifeminismus bei den Juden.‘ Einer Isolierung der Frauen innerhalb der jüdischen Minderheit scheint Beckermann skeptisch gegenüberzustehen, eine Problematik, die freilich die Stellung der jüdischen Frauen in der Diaspora generell betrifft. Beckermann begann die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und mit Österreich mit einem historischen Essay, der das Buch Die Mazzesinsel einleitet und der der untergegangenen Welt der Juden in der Wiener Leopoldstadt nachspürt. Bis zu der Entwicklung ihrer Filmessays hin sollte dieses Genre in den nächsten Jahren zu Beckermanns bevorzugtem werden. Beckermann faßt dementsprechend den Essay als Genre, das ihr erlaubt, von eigener Erfahrung ausgehend zu versuchen, den Holocaust und das Überleben ihrer Eltern für die eigene Identität zu verarbeiten. Einen Einfluß des Poststrukturalismus oder der französischen Philosophie, wie sie die Beziehung Beckermanns zu Frankreich, insbesondere zum französischen Film, nahelegen, verneint sie. Dagegen bekennt sie sich zum Vorbild Jean Amerys, der bis heute „ein geheimes Losungswort“ darstelle. Schon die 16jährige bewunderte ihn als „Teil einer Gegenwelt, die sich nicht allein gegen die Dumpfheit der anderen richtete, sondern gegen die Anpassungsversuche der Eltern an diese Scheinwelt.“ (Beckermann 1993, S. 191) Später bezeichnet sie Amery als Schriftsteller, der ,,zur Familie gehört“: Ich habe das nie genau analysiert, aber bei Amery ist es klar, daß es die Erfahrung, die Thematik ist, die mich anzieht, auch die Radikalität und der Schmerz, den ich empfinde, daß er in Brüssel gesessen ist und daß er auch in Frankreich nicht diesen Zugang sich verschafft hat, obwohl es möglich gewesen wäre. (Anm. 3) Für Beckermann ist Essayismus Experiment, von dessen Ergebnis sich überraschen zu lassen sie durchaus bereit ist, wie in ihrer Stellungnahme zu Nach Jerusalem, dem Film über die Fahrt von Tel Aviv in die israelische Hauptstadt, deutlich wird: Ich habe eben das Konzept dieser Straße gewählt, um auch mich selber einzuschränken und das zu sehen, was wirklich auf diesem Weg passiert; [...] (Anm. 3) In diesem Film Beckermanns werden die vermittelten visuellen Eindrücke kaum kommentiert. Die Reise von Tel Aviv in Richtung Jerusalem, in deren Verlauf sich ein Panorama der kulturellen Vielfalt des modernen Israel, der Konflikte aber auch der positiven Interaktion zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Judentum und Islam entfaltet, wird nicht so sehr verbal als visuell erzählt. Im Sinne des Genres des Filmessays verlagert sich die Narration also in die Bilder. Wie Beckermann unter dem erklärten Einfluß Chris Markers Sans Soleils eine sehr persönliche Form des Dokumentarfilms entwickelt, läßt sich anhand ihrer bisher letzten drei Filme erkennen. Die Filmtrilogie, deren Abschluß Nach Jerusalem darstellt, wird zusammengehalten durch das experimentelle Forschungsinteresse der Regisseurin. Der erste Teil Wien retour einem streng dokumentarischen Muster. Der Film zeigt Reiter: Verfolgten Sie eine ähnliche Absicht, wie Handke mit seiner jüngsten Serbien-Reise? Beckermann: Nein, nein, nein, eben nicht! Da hätte ich ja einen Film machen müssen, der sich auf eine Seite stellt. Mir ging es einmal darum, daß einfach ganz andere Bilder noch da sind von diesem Land, die man nie sieht. Der Film ist ja nicht umsonst in Amerika sehr gut angekommen. Das habe ich mir eigentlich auch gedacht. Viele Amerikaner fahren nach Israel, sie fahren immer an den gleichen Ort, in die gleichen Hotels. Man kennt das Land nicht wirklich, oder man kennt es vom Fernsehen. Und es war auch in New York bei einer Diskussion, daß jemand gesagt hat: Israel ist täglich in den News, und nun habe ich zum ersten Mal Bilder gesehen. Man fährt auch nicht in irgendein verlassenes Dorf, da gibt es eigentlich nichts zu sehen. Und es war auch so witzig, daß beide Palästinenser, die ich gedreht hab’, gesagt haben, na, was drehen Sie hier, fahren Sie doch nach Ramallah oder nach Nablus... Reiter: Ja, das war der Radwechsler... Beckermann: Der war sehr gut, der war sehr, sehr gut, wie er gesagt hat, es hat jeder zwei Augen im Kopf und kann sehen. [...] Ja, Humor... Das ist ganz typisch, daß die Palästinenser etwas humorvoller sind als die Juden, weil sie ja dort in der Minderheit sind. Die Minderheiten müssen Humor entwickeln. Ich habe gerade gelesen, es gibt einen Ethnologen, der palästinensische Witze sammelt. Wie sich die verändert haben in den letzten 20 Jahren, das ist schon sehr interessant. Reiter: Haben Sie ein Vorbild für Ihre Filme? Wie haben Sie begonnen? Beckermann: Es hat eigentlich damit begonnen, daß ich mit zwei Kollegen, mit dem Josef Aichholzer und dem Franz Grafl 1978 einen Filmverleih gegründet habe, und davor gab es in Wien 1976 die Arena, das war die Besetzung des Schlachthofgeländes in St. Marx, das war zunächst der Kampf um ein Jugend- und Kulturzentrum einen Sommer lang, und da war ich auch dabei. Das hat ziemlich politisierend auf mich und auf viele andere gewirkt. Aus dieser Arena ist eine Bewegung entstanden: die Zeitschrift , Falter“ wurde gegründet, wir haben unseren Verleih, den „Filmladen“ gegründet. 1977 haben wir zu dritt unseren ersten Film gemacht, als ,, Video-Gruppe Arena“ ‚und zwar haben wir sämliches Film- und Fotomaterial der Arena gesammelt und daraus einen Film gemacht. In diesem Film-Verleih haben wir sehr viele Dokumentar-Filme aber auch Spielfilme, also politische, engagierte Filme nach Österreich gebracht. Auch Kurzfilme, die in Schulen oder Dritte-Welt-Gruppen, damals war ja noch eine politisch sehr aktive Zeit, in Frauengruppen oder dergleichen gezeigt wurden. Z.B. über Südafrika, der Spielfilm „Salz der Erde“. Dann wollten wir selber auch politische Filme machen. So hat das begonnen, ohne daß ich je auf eine Filmschule gegangen wäre, sehr autodidaktisch. Reiter: Und Vorbilder? Beckermann: Für mich sind Bücher sehr wichtig. Wenn ich an einem Film arbeite, gibt es immer ein paar Bücher, die mich begleiten. Z.B. die Marguerite Duras war sehr wichtig für mich, aber nicht durch ihre Filme, sondern durch ihre Bücher. Oder Chris Marker, der ,,Sans Soleil“ gemacht hat. Reiter: Österreichische Film-Granden, wie etwa Axel Corti, sind da nicht darunter? Beckermann: Nein, überhaupt nicht. Das Problem in Österreich ist, daß es eben keine wirkliche Tradition gibt. Reiter: Es gibt vor allem keine Avantgarde. Beckermann: Nein, die gibt es schon. Der Experimentalfilm ist das einzige, was es in Österreich wirklich gibt: Kubelka, Krenn, Valie Export... das ist das einzige, was sich 21