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eigentlich nach dem Krieg entwickelt hat. Ich habe mich jetzt mit dem österreichischen Film ziemlich auseinandergesetzt, weil ich ein Buch herausgebe über Kino in Österreich. Reiter: Das Autobiographische an „‚Unzugehörig“ halte ich gerade für das wesentliche. Ihr Essay gehört für mich in eine Gruppe ähnlicher Werke, wie „Dies ist nicht mein Land“ von Lea Fleischmann, oder in jüngster Zeit die Essay-Bände Chaim Nolls ‚‚Nachtgedanken über Deutschland“ und ,,Leben ohne Deutschland“, in denen er mit Deutschland abrechnet. Das sind ähnliche Gedanken, eine Art Haßliebe, wenn man das so bezeichnen kann. Einerseits lebt man in dem Land, weil man dort aufgewachsen ist... Beckermann: Man muß ja nicht dort leben. Ich war in Paris, in diesen drei Jahren, mehr mit meinem WienerinSein konfrontiert als ich es hier bin. [...] In Frankreich gibt es genug Antisemitismus, aber der fällt mir nicht so auf. Ich verbinde damit nichts. Während natürlich hier jede Kleinigkeit ein ganzes Assoziationsfeld eröffnet. [...] Weil man, die Bilder dazu hat und die ganzen gefühlsmäßigen Nuancen kennt, nicht nur die sprachlichen, sondern die menschlichen, die da drin stecken, die kulturell-spezifischen, auch wenn sie 50 Jahre früher waren, die sich hier abgespielt haben, ist das schon sehr nachvollziebar. Das ist ganz eindeutig. Das ist aber nichts, wovor ich flüchten wollte. Ich mag diese Auseinandersetzung. [...] Man muß das irgendwie durcharbeiten. Ich meine, ich habe in acht Jahren drei Filme gemacht und zwei Bücher und habe mich darin mit diesem Thema beschäftigt und bin durch sämtliche Depressionen gegangen, die dazugehören. Jetzt ist es für mich anders. Irgendwann hat man etwas für sich verarbeitet, und es kann mich das jetzt nicht mehr so leicht erschüttern, was damit zu tun hat. Es ist für mich leichter jetzt, hier zu leben als früher, obwohl ich mich noch immer über genug ärgere. Reiter: Hat das vielleicht doch auch damit zu tun, daß Sie eine gewisse Anerkennung in diesem Land erfahren haben? Beckermann: Nein, das glaube ich nicht, daß das wirklich etwas damit zu tun hat. Anerkennung und Erfolg wirken natürlich auf das eigene Wohlbefinden, das ist klar. Aber deswegen ärgert es mich genauso, wenn die „‚Kronen-Zeitung“ etwas Antisemitisches schreibt. Ob man bekannt oder weniger bekannt ist ändert nichts an den grundsätzlichen Verhältnissen und Bekanntheit schützt einen ja nicht vor Angriffen, im Gegenteil. Außerdem sollte man nie den Fehler machen, zum Parvenü zu werden. Das kann man ja heute auch gar nicht mehr. Der Stefan Zweig hat noch gemeint, er sei irgendwie geschützt. Also, das glaube ich sicher nicht. Für mich ist eher nicht mehr so wichtig, wo ich lebe. Es ist mir wichtiger, was ich mache und wo meine Freunde sind. Ich habe mir ein eigenes Netzwerk aufgebaut. Reiter: Warum aber drücken Sie Ihre Gedanken, Ihre Kritik und Ressentiments, aber auch Ihre Wünsche und Träume in Essays, vor allem auch in Filmessays aus? Beckermann: Mich interessieren beim Film die Randbereiche des Dokumentarfilms. Sie haben die drei letzten Filme gesehen. Jeder ist ein wenig anders. Es sind eigentlich alle drei Reisen, in gewisser Weise, aber von der Form und vom Aufbau sind alle drei verschieden. [...] Aber ich habe bei der Arbeit an meinem Filmbuch bemerkt, darin sind sehr viele theoretische oder filmhistorische Texte gesammelt, daß ich das Theoretische mit dem Subjektiven vermenge, und das darf man doch eigentlich nicht. Es gibt so viele Vorbehalte hier gegen das Persönliche und Autobiographische. Anna Mitgutsch hat mir unlängst gesagt, und da hat sie sicher recht, daß Literatur, die etwas Autobiographisches behandelt, als etwas Minderwertiges angesehen wird. Daß die reine Fiktion sozusagen auf einer höheren Stufe steht als Autobiographisches. Beim Film habe ich auch diesen Eindruck, aber vielleicht hat man auch 22, eine Montage der Erzählungen des Leopoldstädter Kommunisten Franz West/Weintraub und historischen Bild- und Filmmaterials. Die Tonspur wird dominiert von der Narration Weintraubs, der dem Zuseher seine Geschichte von der Ankunft in Wien 1924 bis zu seinem erzwungenen Exil erzählt und als Ausblick über den Verbleib seiner Familie berichtet. Ein gegenwärtiger dialogischer Faden wird durch die Montage von Bildern und Erzählung hindurch durch die Fragen der Interviewerin gewonnen. Beim mittleren Teil der Trilogie, Die papierene Brücke, handelt es sich um den autobiographischsten von Beckermanns Filmen. Auf den Spuren der Erzählungen ihres Vaters reist sie nach Osteuropa, also gewissermaßen in die eigene Erinnerung. Sie erklärt nicht nur zu Beginn ihr persönliches Interesse an der Reise, sondern ist auch im Laufe des Films als Interviewerin präsent. Mit dem Film erzählt sie zwei unterschiedliche Geschichten, diejenige ihres Vaters in Osteuropa und diejenige, die ihrer Großmutter bestimmt gewesen wäre, hätte sie sich ihr nicht entzogen. Oma Rosa stellte sich stumm und überlebte in Wien. Der zweite Teil von Die papierene Brücke dokumentiert die Pausengespräche der jüdischen Komparsen in einer Hollywood Rekonstruktion des Lagers Theresienstadt für die ABC-Fernsehserie ,,Krieg und Erinnerung“. Beckermann, Kind und Enkel der einst Verfolgten und Davongekommenen, steht nicht nur im Zentrum dieses Films, sondern sie bildet mit ihrer Person auch die Klammer, die seine beiden doch recht unterschiedlichen Teile zusammenhält. Den genannten Filmen gemeinsam ist der Umstand, daß sie nicht nur die Bilder des Verlorenen heraufbeschwören, sondern daß sie das Verlorene zum Anlaß eines eigenständigen Kunstwerkes machen (Muschg 1981, S. 51). Dies gilt auch, wenn auch auf eine andere Weise, für den abschließenden Teil der Trilogie. Beschwörung sei die eigentliche Absicht des Essays, kritisierte einst Reinhard Baumgart (1957, S. 604). Eine Beschwörung in Bildern im positiven Sinne ist Beckermanns Filmessay Nach Jerusalem: Ich hatte mit Israel viel zu tun, da meine Mutter dort in der Emigration war und ich als Kind die Sommer dort verbrachte. Zuerst hatte ich eine sehr emotional geprägte Beziehung zu diesem Land, die als Kind natürlich eine sehr schöne war und dann später - in den 70er und 80er Jahren -, eine sehr kritische. Dann wollte ich mir dieses Land anschauen, wollte sehen, wie es wirklich ist. Was ist aus den Träumen geworden? (Anm. 3) In diesem Film zieht sich die Regisseurin gänzlich zurück in die Auswahl und Organisation der Eindrücke. Waren in Wien retour die Bilder noch weitgehend Illustrationsmaterial des Textes und ergänzten sie diesen in Die papierene Brücke, indem sie die unausgesprochenen Sehnsüchte der Autorin ausdrückten (‚die Landschaft zog mich in sich hinein“, lautet ein charakteristischer Bildkommentar), so stehen sie in Nach Jerusalem für sich, fungieren also nicht mehr als Metaphern wie in den vorangegangenen Filmen, sondern „bilden eine eigene kontrapunktische Ebene“ °. Bildschnitt und Musik gewinnen nunmehr den Rang von „Erzähl“techniken. Tschaikowskis Symphonie melancholique, von der zwischen Lokalgeräuschen, Interviews oder Radio-Meldungen immer nur ein bis zwei Takte des Themas zu hören sind, bildet das einigende Element für die unterschiedlichen Szenen und Bilder. Indem sie eine gewisse Schtetl-Atmosphäre evoziert, verbindet diese Musik darüber hinaus auch das ‚‚neue“ , reale Israel der Intifada, der Multinationalität mit den Träumen der europäischen Juden. Der Titel ist dabei durchaus programmatisch gemeint: ,,Das Nicht-Ankommen in Jerusalem“, schrieb mir die Autorin kürzlich, war von Anfang an Konzept. Damit wollte ich zeigen — wie auch in der Doppelbedeutung des Wortes nach im Titel angedeutet —, daß es ein Jerusalem gibt, das Sehnsucht bleiben sollte. Versucht man dort anzukommen wie die religiösen Fanatiker, für die die Bibel ein Grundbuch zu sein scheint, wird ein Kreuzzug daraus. Außerdem soll der Film auch den Schwerpunkt der Argumentation von Jerusalem weg verlagern. Auch ohne ein geeintes Jerusalem gibt es ein Israel.® Wen will die Regisseurin mit ihren Filmen ansprechen? Alle und niemanden, meint sie im Gespräch. Und auf Nachfrage erklärt sie, daß sie mit Nach Jerusalem ein alternatives Bild des Landes liefern wollte, das das aus den Massenmedien bekannte wenn nicht korrigiert, so doch ergänzt. Beckermanns bisherige Filme waren alle essentiell Reiseberichte: In Wien retour geht es um die Reise aus dem Schtetl nach Wien, in Die papierene Brücke