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der Untersuchungshaft entlassen, emigrierte sie nach Prag und dann nach London, wo sie ein Jahr lang Sekretärin des London Büros der österreichischen Sozialisten war. Nach dem Krieg arbeitete sie als ,, Labor-Editor“ in der Gewerkschaftsabteilung der den Marshall-Plan in Osterreich abwickelnden ECAMission in Wien, dann als Journalistin und Ubersetzerin bei der Konsumgenossenschaft. Henriette Kotlan-Werner schrieb Artikel und Feuilletons für ,,Arbeiter-Zeitung“, ,,Die Frau“, ,,Arbeit und Wirtschaft“ und verschiedene Gefwerkschafts- und Genossenschaftsblätter. Buchpublikationen: Triumph der Selbsthilfe. 100 Jahre Konsumgenossenschaft (Wien 1965); Kunst und Volk. David Josef Bach 1874 — 1947 (Wien 1977); Kanitz und der Schönbrunner Kreis. Die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher 19231934 (Wien 1982). Henriette Kotlan-Werner war dabei, außer dem vorliegenden Aufsatz noch weitere Beiträge für MdZ vorzubereiten. Am Freitag, 26. Dezember 1997, ist sie überraschend in Wien verstorben. Aufihrer Trauerparte steht: ,,Tot ist nur, wer vergessen wird.“ Wir werden uns bemiihen, in einer der nächsten Nummern von MdZ Texte aus ihrem Nachlaß zu veröffentlichen. Der Weg einer Sozialistin Henriette Kotlan-Werner wuchs mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf. „Ich hatte das Gefühl aus dem Dunkel ins Licht getreten zu sein, und das beruhte nicht nur alleine darauf, daß wir nun nicht länger eine düstere Gangküche und ein Zimmer hatten“, schrieb sie in einen Aufsatz über die Bildungsorganisation der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Österreichs. Die Bildung und Aufklärung der Arbeiterklasse — des Menschen überhaupt - war für sie eine der wichtigsten Aufgaben der sozialistischen Bewegung. Bildung war für sie kein Privileg, kein privates Eigentum; im Elfenbeinturm sollte es nicht enden. 1937 verließ sie Österreich Richtung England, weil sie eine „‚Rote‘“ war und es bleiben wollte. Menschen wie Henriette Kotlan machten es sich nichtleicht, indem sie einfach die Seite wechselten, sie wählten das Schwierigere: das Exil. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich, war sie sehr bald desillusioniert. Von den Anfängen der Arbeiterbewegung war nicht viel geblieben. Ehemalige Faschisten und Nazis in der Partei, um deren willen sie das Land verlassen hatte, waren nun ihre „Parteigenossen“. Machtstreben, Postenschacher, Mißwirtschaft, Korruption; viel mehr konnte sie nicht 26 Im Polizeigefängnis auf der Roßauerlände erfuhr ich, daß ich zu drei Monaten Polizeihaft verurteilt sei, „wegen illegaler politischer Tätigkeit“. Über Nacht war im März 1933 Österreich ein Staat ohne Parlament geworden, die Todesstrafe eingeführt und nach den Feberkämpfen 1934 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die freien Gewerkschaften verboten. Das erste Opfer der neu eingeführten Todesstrafe war ein armer Landarbeiter, der einen Stadel angezündet hatte. Als der junge sozialdemokratische Jurist Dr. Fritz Kreisler das las, zerriß er vor Wut und Schmerz sein Doktordiplom. Ich teilte meine Zelle im Polizeigefängnis mit einer jungen Kommunistin und einer etwa fünfunddreißigjährigen, im Gefängnisleben erfahrenen Revolutionärin aus Bessarabien. Sie war ein feiner, liebenswerter Mensch und nannte sich, gemäß dem tschechischen Paß, der ihr als Ausweis diente, Vlasta Vejmolova. Anstatt zu tanzen, hatte sie mit fünfzehn Jahren schießen gelernt. Wir bildeten eine gute Dreiergemeinschaft. Am Morgen, nach Gymnastikübungen, lasen wir gemeinsam — da wir Leseerlaubnis erhalten hatten — ,, Die Geschichte unserer Welt“ von H.G. Wells. Vlasta wollte in das Französische eingeführt werden, was ich, soweit es die Grundkenntnisse der Grammatik betraf, tun konnte, während sie mich die zyrillische Schrift für das Russische lehrte, die ich heute leider nicht mehr beherrsche. Sie beneide uns fast um unser Zusammenleben, sagte einmal die Gefängnisaufseherin, die uns offenbar genau beobachtete. Das Essen war ausreichend und im Grunde gut, wenn auch Herta, die junge Wiener Kommunistin, meinte, der viele Milchreis gefährde unsere Zähne. Wir hatten als Alpenland reichlich Milch, und ein Wirtschaftsabkommen mit Mussolini lieferte uns Reis aus Italien. Zu jener Zeit gab es auch, aber nur für politische Gefangene, täglich eine Extra-Knackwurst, was ich mir nur schwer erklären konnte. Eine Idylle also? So mag es scheinen. Aber wir saßen in einem Gefängnis, ohne verhört worden zu sein, ich wurde selbstverständlich von der Universität relegiert und gefährdete meine Familie, namentlich solche Mitglieder, welche öffentliche Angestellte waren. Das Schlimmste aber: Wir hörten die Sechzehnjährigen schreien, die von der Polizei geprügelt wurden. Seit der Einführung der Todesstrafe setzte die kommunistische Partei immer mehr Minderjährige für untergeordnete illegale Tätigkeiten — Plakate und Zettel ankleben, Schmieraktionen - ein. Ich kritisierte das schon damals in der Gefängniszelle. Nach zwei Monaten Polizeigefängnis wurde ich als Untersuchungshäftling ins Landesgericht überstellt. Anklage: Hochverrat. Ich war zunächst allein in meiner Zelle. Die Zeiten zwischen den Mahlzeiten, die ausreichend, aber ohne tägliche Knackwurst waren, verbrauchte ich mit dem genauen Lesen des Klo-Papiers, das aus zerrissenen Zeitungen bestand, und dem Bekämpfen der Wanzen. Ersteres hörte auf, nachdem ich die Erlaubnis erhalten hatte, gewisse Dinge kaufen zu lassen: Seife, Schreib- und Klo-Papier, einen Bleistift. Kugelschreiber gab es noch nicht. Die Wanzenbekämpfung, die ich mit nicht erlahmender Energie betrieb, für die mir aber nur kaltes Wasser zur Verfügung stand, das mir eine Aufseherin bereitwillig in einer großen Kanne brachte, die hörte niemals auf. Gelang es mir, meine Zelle von dem Ungeziefer zu befreien, so wanderten doch neue Wanzen aus anderen Zellen immer wieder zu. Da erhielten wir „Zuwachs“, wie es im Gefängnisjargon hieß. Ein neuer Untersuchungshäftling wurde eingeliefert. Das konnte ich natürlich nicht sehen, sondern nur hören, und obwohl dieser Neuankömmling und ich ‚nicht kompliziert waren“, wie es in der Gefängnissprache hieß, d.h. obwohl wir nicht Komplizen waren, sah ich sie beim täglichen Spaziergang im Galgenhof nicht. Aber ich hörte sie, ich, alle anderen Häftlinge und die Aufseherinnen. Vom Morgen bis zum Abend und nicht selten mitten in der Nacht war ihre Jammerstimme zu hören: Sie sei krank, brauche dringend ärztliche Hilfe, o weh, o weh. Sie sei mit ihrem Bräutigam zusammen verhaftet worden, habe mit diesem zusammen geschlafen und sich mit einer Krankheit angesteckt, o weh, o weh. Aus den Zellen waren Rufe zu hören: „‚Ruhe!“, ‚Man kann ja bei dem Gejammer nicht schlafen“, „Halt doch endlich die Gosch’n!“ Immer gereizter, aggressiver reagierten die gefangenen Frauen auf das nicht endenwollende Wehklagen. Derbe, obszöne Zurufe waren zu hören und die aufgebrachten Stimmen der Aufseherinnen, die ohne Zweifel das unglückselige Geschöpf herumstießen, es vermutlich auch schlu