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könne. Ich machte mich sofort auf den Weg und fand das Ehepaar tief erschüttert, nahezu gebrochen an. An diesem Tag, so erfuhr ich, hatte die Nachricht London erreicht, daß die im Warschauer Ghetto zusammengetriebenen Juden als Todgeweihte einen Aufstand versucht hatten und — im Zuge der ‚„‚Endlösung“ - insgesamt ermordet worden waren. Der Vorsitzende der polnischen „‚Bundisten“, welchem die Flucht nach England gelungen war, unser Freund Zigelbojm, habe - so die Pollaks — nach dieser Nacht Selbstmord begangen. Die ,,Bundisten“! Sie waren den emigrierten österreichischen Sozialdemokraten eng verbunden, oft im Austrian Labour Club. Dort hatten sie uns auch einen Film vorgeführt, der uns verdeutlichte, was sie anstrebten. Genau erinnere ich mich heute noch einer Szene: Fröhliche Burschen im Kaftan und mit Schläfenlocken spielten Fußball. In der Folge zeigte der Film, wie sich die jungen Menschen allmählich vom traditionellen Gewand befreien, Turnhose und Leibchen trugen beim Sport, wie alle anderen jungen Leute. So sind mir die Bundisten in Erinnerung geblieben: jüdische Arbeiter, die um eine Assimilierung der Ostjuden bemüht waren - eine Assimilierung, wie sie der jüdischen Oberschicht in Westeuropa im neunzehnten Jahrhundert zum Teil gelungen war. Sie wollten die Ghettos zum Verschwinden bringen. Jetzt aber, im Jahr 1943, war die ganze Welt in Gefahr, ein riesiges Ghetto zu werden. Und nun gedachte ich nach Jahren wieder der jüdischen Polin, die uns im Gefängnis nicht schlafen hatte lassen, die mich bemitleidete, weil ich glaubte, das Unrecht in der „Um 1942 im Dorf Toot-Baldon bei Welt könne besiegt werden. O, weises Ghettokind, arme Schwester, wo bist du zu dieser Oxford, wo Mrs. Seligman sechs Stunde? Kleinkinder ausgebombter Familien aus Ich war beim Begräbnis unseres Freundes Zigelbojm in Golder’s Green. Die London aufgenommen hatte und die Grabrede hielt ein junger Bundist in jiddischer Sprache. Behördebewegen konnte, mich als Betreuerin anzustellen und zu bezahlen.“ Wien, 27. Oktober 1997 „Ihe poetry of Theodor Kramer“ in Guildford Im Rahmen des Guildford Book Festival fand am 27. Oktober 1997 eine von Peter Newmark initiierte Vorstellung des Werks von Theodor Kramer am Guildford Institute statt. Peter Newmark, einst Lehrer am Guildford Technical College, hatte den österreichischen Lyriker persönlich gekannt und vermittelte ein lebendiges Bild von dem nicht unproblematischen, Jurchtbar einsamen und doch humorvollen Zeitgenossen. Eine zweisprachige Lesung — die Übersetzung ins Englische besorgte Pauline Newmark — komplettierte den Kramer-Nachmittag, der schließlich auch den Bewohnern von Guildford erzählen sollte, wer zwischen 1943 und 1956 in ihrer Stadt gelebt und gearbeitet hatte. Eine kleine Buchausstellung der Bücher Kramers war ebenfalls zu sehen. Pauline Newmark: Bemerkung der Übersetzerin Es begann mich der Gedanke zu beschäftigen, daß es doch von Interesse sei, Gedichte zu finden, die in einer Beziehung zu Guildford stünden. Das erwies sich als schwierig: viele der ausgewählten Gedichte waren hier geschrieben worden, aber sie standen in keiner wirklichen Beziehung zur Stadt. Intensiv ist die Vergangenheit bei Kramer lebendig; zum Beispiel bei „Beim Besichtigen eines neuen Zimmers“ das bedeuten könnte, ein Zimmer in Guildford zu suchen, aber der Eisenwaschtisch und die Truhenbank meint Wien. Daß ein Milchmann in „Morgen wird umsonst der Milchmann klopfen“ die Milch zustellt ist sehr englisch, aber niemand hat in einem Pub in Guildford — weder in den 40er Jahren noch heute — Wein aus Rust im Burgenland vorrätig! Guildford wird als eine schöne Stadtansicht beschrieben — und ich weiß, daß Kramer viel spazieren ging — , aber so entfernt ich sein mag, ist mir doch bewußt, daß die einzige Stadtansicht, die er beschrieb, die seines eigenen Landes war. Ohne Zweifel waren Versmaß und Rhythmus für Kramer wichtig - ich kenne kein Gedicht in freiem Rhythmus oder ungebundener Zeilenlänge — so versuchte ich beides, Versmaß und Rhythmus Kramers zu finden. Das führte zu einigen offensichtlichen Ungeschicklichkeiten, für die ich um Nachsicht ersuche. In der Tat kannte ich Kramer als „‚Mister Kramer“ , als ich 1947/48 mit 17 Jahren die Sekretärinnen-Ausbildung am Guildford „Tech“ absolvierte und er der Bibliothekar war. Sicher war er eine fremdländische Erscheinung in seinem zeitlosen schwarzen Anzug und den geschnürten hohen Schuhen, mit schlurfendem Gang und mit kurzsichtigem angestrengten Blick. Er schien dem 19. Jahrhundert anzugehören. Wie auch immer, abgesehen von dieser Fremdheit, erinnere ich mich an niemanden, der über ihn gelacht oder herabsetzende Bemerkungen über ihn gemacht hätte. Wir wußten nichts über seine Vergangenheit und er sprach niemals darüber. Er war ein guter Bibliothekar, hilfreich und mit genauer Kenntnis seines Bücherbestandes. Wenn ich heute die Gedichte lese seine Einsamkeit ist so offensichtlich —, wünschte ich, es schon damals gewußt zu haben. Aus dem Englischen von Siglinde Bolbecher 28