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Alla Seljanowa Das Teufelskarussell Erzählung Das Fenster schaut nach Osten, und ich sehe, wie die Vorhänge, fast tiefblau im Halbdunkel, langsam blaß werden und in Aschgrau übergehen. Durch das Klappfenster dringt der Geruch des Brotes — das bedeutet, daß in der Bäckerei schon gearbeitet wird. Drei Minuten vor fünf: Zeit aufzustehen und Lenka zu wecken. Früh aufzustehen fällt mir nicht schwer. Ich habe auch daheim nie lange geschlafen. Und der Brotgeruch erinnert mich an die Feiertage zu Hause, als die Mutter bei Tagesanbruch aufstand und den Teig in einem großen irdenen Topf anrührte. Den Topf deckte man zu, und bald fing der Teig in der Wärme an aufzugehen und quoll über den Topf. Dann teilte ich mit den Schwestern den Teig in sechs Stücke, und jede formte ihre eigenen Pirogen. Später saßen wir am Tisch: die Männer der beiden älteren Schwestern, die Neffen und wir: Wera, Nadjeschda, Ljubow, Jekaterina, Sofja, Njuska und die Mama. Die Fenster waren offen, und die Leute, die auf der Straße vorübergingen, schauten zu uns herein und grüßten uns. ... Hier gibt es keine Heiligenbilder, keine Fliegen im Zimmer, und die Fenster im Erdgeschoß liegen so hoch, daß Lenka, wenn sie gegen Morgen heimkommt, einen Holzklotz hinstellt, um ans Fenster klopfen zu können. Hier ist Vorfrühling, in dem österreichischen Bergdorf mit den exakt gebauten Häusern, den sauberen Gärten und einer einzigen Straße — mit einem Parkplatz für die Autos der Touristen. ... Mit Lenka lebe ich seit drei Jahren hier. Drei Kriegsjahre, aber bis zu uns dringt kein Laut davon. Manchmal, als hätte ich vergessen, was vorgeht, möchte ich mich hinsetzen und einen Brief nach Hause schreiben — aber dann besinne ich mich: was soll ich von hier schreiben? Welche allmächtige Hand könnte meinen Brief dorthin bringen, in die russische Stadt, damit meine ‘Mutter erführe, daß ich noch am Leben bin? Der Wecker schrillt lange, und noch während er läutet, höre ich in der Küche unsere Hausfrau Elsa mit Peter zanken. Ich stelle mir vor, wie er dumm lächelt und nickt, aber ich weiß, daß er dann geht und stillschweigend alles selbst macht. Und Elsa weiß das auch. Ich stehe auf, ziehe ein Kleid an und stecke mein Haar auf. Elsa schätzt Ordentlichkeit 30. über alles, besonders wenn ein Mädchen in der Küche arbeitet. Während des Frisierens schaue ich im Spiel auf die schlafende Lenka. Sie stört der Wecker nicht, nicht die Stimmen aus der Küche - sie schläft wie tot. „Lenka!“ rufe ich in den Spiegel, ‚steh auf!“ Sie regt sich nicht einmal „Steh auf!, wiederhole ich geduldig. „Es ist schon fünf!“ „Geh zum Teufel!“ antwortet sie im Halbschlaf. So geht das jeden Morgen. Jeden Tag ist sie auf mich wütend, als ob ich sie aus einer Laune heraus weckte. Lenka trödelt lange, und wenn wir hinausgehen, wartet Elsa in einem blauen Wollkleid schon bei der Küchentür auf uns, ihr Gesicht ist unzufrieden. „Guten Morgen, Frau Elsa“, sage ich. Lenka nickt nur. „Guten Morgen“, antwortet Elsa mit einem knappen Lächeln. Und mit leichten Schritten geht sie hinaus. Sie ist an die Dreißig, aber mir scheint, daß ich mit meinen neunzehn Jahren älter aussehe. „Fang du an, ich laufe schnell in die Bäkkerei, was dort los ist“, sagt Lenka. Ich richte das Gemiise und das Huhn, Lenka ist schon zwanzig Minuten aus, obwohl ich weiß, daß in der Bäckerei nicht mehr gearbeitet wird. Peter hat schon Semmeln gebacken und ist mit seinem alten Gaul Kraut holen gefahren. Endlich kommt Lenka zurück, setzt sich ans Fenster und wartet gähnend auf Peter. Der ist auch ein Arbeiter, Gott behüte! Am anderen Ende der Straße erscheint er nach anderthalb Stunden, obwohl man das Nachbardorf vom Fenster aus sehen kann. Um acht Uhr frühstücken wir in der Küche. Lenka sitzt neben Peter, und ich sehe, wie er unter dem Tisch nach ihrem Bein greift, indem er so tut, als wollte er sich kratzen. Lenka ißt unerschütterlich, auf ihrem breiten Gesicht zeigt sich keine Regung. Peter ist Belgier, Elsa brachte ihn einige Monate nach uns aus einem Lager bei Wien. Er war fünfundzwanzig, der Sohn eines Ladenbesitzers aus der Kleinstadt. Peter wußte wahrscheinlich selbst. nicht, warum es ihn hierher verschlagen hatte. Er ist ein Albino, mit weißlichen Wimpern und Brauen, sogar seine Augen sind farblos. Anfangs war er Elsa wahrscheinlich dankbar, daß sie ihn aus dem Lager herausgeholt hatte, zu offensichtlich war der Unterschied zwischen dem Fraß im Lager und Elsas Küche. Als er hierherkam, war er so mager, mit ruhelosen Augen, und er aß für vier. Damals verstand er gar nichts, wenn wir oder Elsa etwas von ihm wollten, und bis man es ihm erklärt hatte, war man müde und machte alles selbst. Doch später, als er anfing, Deutsch zu verstehen und etwas zu sprechen, mit Französisch gemischt, kam ich dahinter, daß er nur ein Faulpelz war. Nur Elsa wurde mit ihm fertig, uns lächelte er lediglich an und rauchte auf der Bank neben dem Haus seine selbstgedrehten Zigaretten. Rauchen konnte er stundenlang. Früher hatte in Elsas kleinem Gasthaus eine Jüdin gearbeitet, aber sie war verhaftet worden, und da nahm Elsa uns. Für ihr kleines Geschäft waren drei Arbeiter sicher zuviel, aber ich vermute, daß sie bei Lenka einfach nicht nein sagen konnte. Im Gefängnis in Wien war ich nicht lange mit Lenka, etwa anderthalb Wochen - sie hatten uns aus dem stinkenden Waggon, der uns endlos durch weiß Gott welche Länder gebracht hatte, direkt hineingestoßen. Die Waggontüren hatten sie nur zur Essenszeit geöffnet. Wir saßen zehn Tage im Gefängnis, als ein Gerücht aufkam, daß am nächsten Tag ein Transport ins Lager ginge, und wir bekamen Angst, denn wir hatten schon gehört, was das bedeutete. Doch da holte uns Elsa. Zu der Zeit sahen wir uns selbst nicht mehr ähnlich — abgemagert und schmutzig, vor allem hatten wir fast den Verstand verloren, weil wir das Gefühl hatten, daß mit uns etwas geschehen war, das nicht wieder gutzumachen war, etwas Furchtbares, und daß es noch schlimmer kommen könnte. Ich erinnere mich noch gut, wie sie uns an dem Tag in einer Reihe antreten ließen — und zwar nur die Russen, und zuerst kam ein dicker Bauer mit rotem Gesicht, der dem verrückten Grinja Spaskij aus unserer Straße ähnlich sah, und ich stieß Lenka an. Der Kerl ließ im Vorbeigehen Lenka nicht aus den Augen, aber irgendetwas gefiel ihm dann doch nicht, er ging weiter, und uns fiel ein Stein vom Herzen. Nach ihm kam Elsa herein, und im gleichen Moment begegneten einander unsere Blicke. Ich dachte da nicht an unser weiteres Schicksal, auch nicht daran, weshalb sie gekommen war - ich starrte nur auf ihr sauberes braunes Kostüm, die rosa Bluse, auf ihren glänzenden Haarknoten -, und Elsa kam mir vor wie eine Erscheinung aus der Vorkriegszeit. Wahrscheinlich war ich nicht die einzige, die sie so ansah. Und Elsa musterte die Reihe, sie zeigte — so kam es