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mir vor — auf mich, doch Lenka hob ihre Hand, an der ich mich noch immer festhielt, und machte einen Schritt nach vor. Da nahm Elsa auch mich mit. Nach der Erledigung der Formalitäten fuhren wir schon mit Elsa aus Wien hinaus. Uns wurde die Küche und das Gasthaus zugewiesen, Peter kam in die Bäckerei und mußte für Elsa mit dem Pferdewagen fahren. Aber wir mußten auch auf den Backofen aufpassen; dieser Albino legte sich, so oft er konnte, auf den Mehlsäcken schlafen. Er schlief gerne, wie auch Lenka. Elsa hatte einen achtjährigen Sohn und einen Mann, der an den Beinen gelähmt war. Der Mann saß fast die ganze Zeitoben, wir hörten nur seine Stimme, wenn er nach Elsa rief. Elsa sagte, es sei gut, daß Gott dem Max die Beine genommen habe, sonst hätten sie ihr Max selbst weggenommen. So lebten wir zusammen: Elsas Familie, Peter, ich und Lenka. Um zehn Uhr trage ich das Frühstück in den ersten Stock hinauf, ins Speisezimmer. Elsa frühstückt manchmal auch unten, das ist für ihren Mann und ihren Sohn. Ich stelle das Tablett auf den Tisch, Max nickt mir lächelnd zu, und Gerhard greift schon nach den Tellern. Er ist ein verwöhntes, bildhübsches Kind. Und er ißt leidenschaftlich gerne. Max heißt mit dem Familiennamen Adamowski, er ist ein österreichischer Pole. Max arbeitete bei Elsas Eltern im Gasthaus und Elsa verliebte sich in ihn. Die Eltern sahen ihn nicht gerne als Schwiegersohn, aber nachdem sie gestorben waren, nahm Elsa ihn zum Mann. Doch zwei Jahre nach der Hochzeit wurde Max plötzlich von der Lähmung befallen, und seither sitzt er in seinem Kabinett und kommt selten nach unten, nur zu den Feiertagen. Abends sitzen in dem kleinen Gasthaus die Bauern. Sie trinken Bier, essen Würstel und Salzstangerl. — Luises Sohn ist vermißt, sagen sie. Er war hübsch und ganz jung, fast noch ein Kind. Sie reden über etwas, aber dabei denken sie: Mein Bub ist auch draußen, und morgen kann ich auch eine solche Nachricht bekommen. Und es sieht schon so aus, sagen sie, daß es bald vorbei sein wird, daß dieser Dreckskrieg vorüber ist. Die Bauern sind alt, vertrocknet, mit braungebrannten Gesichtern, mit knorrigen Fingern. Wenn ich ihnen die Biergläser bringe, nicken sie mir zu und danken. An den ersten Tagen, nachdem wir zu Elsa gekommen waren, hatten uns alle betrachtet, wenn wir die Gaststube betraten — mit Interesse, nicht feindselig. Jetzt haben sie sich an uns gewöhnt. Mit mir sind sie höflich, doch Lenka geben sie gern einen Klaps aufs Hinterteil. Und ein Alter, der noch nicht gebrechlich aussieht, zieht sie auf seine Knie und tut, als wollte er sie küssen. Lenka wehrt sich und schreit auf Russisch: — Uuuu, staryj chrytsch!)" Alle lachen, obwohl sie das Spiel schon längst kennen. Und keiner von ihnen weiß, was „„Chrytsch“ bedeutet. Spätabends, nach dem Aufräumen, wenn ich vor dem Schlafengehen draußen noch eine rauche, begibt sich Lenka in die Scheune zu Peter. Dort nimmt er sie auf die Knie und treibt wahrscheinlich noch allerhand, aber ihn beschimpft sie nicht, obwohl es gerade dem Peter gebühren würde. In die Scheune geht Lenka schon seit langem. Ich habe keine Ahnung, wie sie damit klargekommen sind, aber offensichtlich haben sie sich verständigen können. Fast täglich kommt Lenka erst im Morgengrauen heim — daher ist es so mühsam, sie aus dem Bett zu bekommen. Über ihre Geschichte mit Peter erzählt sie mir nie etwas, überhaupt unterhalte ich mich wenig mit ihr — höchstens in der Küche über den Haushalt, und das, obwohl wir Nachbarskinder und Schulkolleginnen waren. Lenka hatte immer viele Verehrer, in der Schule, bei den Tanzabenden im letzten Frühling vor dem Krieg — aber hier gibt es nur einen, der sich eignet: Peter. Ich war auch friiher mit Lenka nicht wirklich befreundet, weil ich oft auf sie eiferstichtig war. Wenn die Musik im Stadtpark zu spielen aufhörte, gingen wir gewöhnlich zu dritt nach Hause: Ich, Lenka und einer ihrer Begleiter. Dann saßen wir auf einer Bank am Ufer der Oka, bis Lenka mich unmerklich mit dem Fuß anstieß und ich das Feld räumte. Jedes Mal, bevor Lenka in die Scheune geht, schminkt sie sich die Lippen. Den Lippenstift hat sie Elsa abgebettelt, als sie uns fragte, ob wir etwas brauchten. Lenka schminkt sich fertig und geht weg, und ich ziehe mir die Jacke an und gehe rauchen. Irgendwo in der Nähe hört man Lenka auflachen, dann Peters gedämpfte Stimme, sie entfernen sich — wahrscheinlich in den Garten. Es ist still und kalt, ich hülle mich in die Jacke ein. Heute hörte ich einen alten Mann sagen, daß die Russen schon in Österreich einmarschiert wären. Er sagte das ganz ruhig, er stellte die Tatsache fest. Mein Herz begann so zu klopfen, daß ich das Serviertablett auf den Tisch stellen mußte, und ich fragte, ob es wahr wäre und wo er das gehört hätte. Doch der Alte erwiderte, er hätte nichts gehört und nichts gesagt. Lenka kommt wieder erst eine Stunde vor dem Aufstehen. In die Küche geht sie ganz verschmuddelt, mit roten Augen, blicklos, weil sie wieder nicht gechlafen hat. „Lena“, sagt Elsa, „ich habe dich sehr gebeten, die Haare in Ordnung zu bringen. In der Küche kann man mit solchen Haaren nicht arbeiten.“ Lenka antwortet auf russisch mit einem ordinären Fluch. „Sonst wirst du auf dem Hof arbeiten‘, fährt Elsa fort. Lena dreht ihr den Rücken zu und blickt aus dem Fenster. „Das ist ein Gesindel“, sagt sie, als Elsa hinausgeht. „Warum?“ frage ich und fühle in mir Ärger aufsteigen. „Was will sie denn von mir? Da rackerst du dich den ganzen Tag ab...“ „Wer denn, du?“ „Und du nicht auch?“ Lenka sieht wie eine Wölfin drein. Ich gehe hinaus in den Hof. Streitereien gibtes nun zwischen uns immer öfter. Zu Max ist sein Freund gekommen, er heiBt Otto. Sein Gesicht ist schmal und diinnlippig. Otto trägt einen schlecht sitzenden grauen Zivilanzug, denn er ist jetzt untauglich. Sein linker Arm hängt schlaff herab, eine Sehne ist durchtrennt. Otto sieht aus wie ein Fünfzigjähriger, aber ich glaube, er kann erst dreißig sein, wenn er mit Max und Elsa befreundet ist. Den ganzen Tag bringt Otto im oberen Stockwerk zu. Wenn ich im Speisezimmer aufdecke, höre ich zu, worüber er mit Max redet: natürlich über den Krieg, über Hitler, über die Amerikaner ... oft verwendet Otto das Wort „Ende“... Otto redet laut, zornig und nervös, Max antwortet wie immer ruhig und leise. In den Jahren, die er in seinem Sessel zugebracht hat, ist er ein richtiger Philosoph geworden, aber wäre er an der Front gewesen, dann wäre er sicher als Neurastheniker zurückgekehrt, so wie Otto, falls er überhaupt zurückgekommen wäre. Am Abend geht Otto leicht schwankend in die Gaststube und setzt sich zu den alten Männern. Die sehen ihn erwartungsvoll an. Doch Otto trinkt nur endlos, raucht eine Menge und wird zusehends betrunken. * entspricht etwa dem niederösterreichischen Dialektausdruck ‚alter Krauterer“ (Anm. D.H.) 31