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Schließlich hält es Josef Lenau, der Alte, der gerne mit Lenka schäkert, nicht mehr aus. „„Na, was hört man aus Wien?“ fragt er und sieht drein, als wiirde es ihn nicht besonders interessieren. ,, Wien?“ Otto hebt den Kopf. ,,Ja, ich bin aus Wien. Ich bin aus Wien. Und wenn du noch mehr von mir wissen willst, dann sage ich dir, daß mir das alles längst zum Hals heraushängt. Alles, alles, alles...“ Er fängt an zu fluchen und findet kein Ende, und nach jedem Satz trinkt er von seinem Bier. Josef Lenau schaut ihn nicht mehr an, er fragt auch nichts mehr, er wechselt nur enttäuschte Blicke mit den anderen Alten am Tisch. Und da bemerkt Otto Lenka, die gerade einen Tisch abwischt. Otto erhebt sich schwerfällig, nimmt seine Flasche und geht langsam und unsicher zu Lenka hinüber. „Fräulein, ich möchte mich zu Ihnen setzen“, sagt er zu Lenka und fordert sie mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Er schenkt ihr ein und raucht eine Zigarette an. „Wie heißt du?“ fragt er. „Lenka“, dann verbessert sie sich: ,,Helene“. „Polin?“ — ,,Russin‘‘, erwidert Lenka. Otto sieht sie an, lehnt sich zuriick und beginnt wie ein Verriickter zu lachen, sodaß sogar Elsa in der Tür erscheint. „Sie ist Russin?‘“ fragt Otto Elsa, und die nickt. Otto lacht wieder, den Kopf zurückgeworfen, doch dann verstummt er und bedeckt das Gesicht mit der gesunden Hand. „Krieg“, sagt Otto laut und wird augenblicklich ganz nüchtern, ‚‚das ist alles der Krieg. Das Teufelskarussell...“ Und dann geht er hinaus, ziemlich schwankend, da merkt man, daß er doch schwer betrunken ist. Eine halbe Stunde später sitze ich neben Lena und Peter auf der Bank und trinke das übriggebliebene Bier aus. Wir rauchen alle drei— Lenka raucht auch, wenn sie betrunken ist, und heute ist für sie etwas abgefallen. ,, Warum hat der Kerl gelacht?“ sagt Lenka auf Russisch, nur zu mir gewandt. ,,Was gab es da zu lachen? War ich lacherlich? Oder daß wir Russinnen sind? Er hat seinen Teil abgekriegt, er sollte ruhig sein.“ „Non, non, non!“ wirft Peter ein, „ich kann nichts verstehen. Bitte sprich Deutsch.“ „Ich sage“ , Lenka geht ins Deutsche über, „daß man dem da“ — sie macht eine Kopfbewegung in die Richtung des Hauses — 32. „den Garaus machen sollte. Hilfst du mit?“ (‚Der und helfen? In die Hosen wird er machen!“ fügt sie auf Russisch hinzu.) „Non, non, non!“ protestiert Peter lachend, „umbringen darf man ihn nicht. Hier gilt das nicht als Patriotismus, hier ist das nur ein Verbrechen.“ Er lacht lauthals und schlägt sich auf die Schenkel. Ich höre zum ersten Mal, wie er etwas überlegt. „Der Ziegenbock, jetzt lacht er bis morgen früh!“ sagt Lenka zu mir. Lachend wie ein Irrer, steht Peter auf, geht um die Ecke und verrichtet seine Notdurft. Lenka deutet achselzuckend auf ihn: ,,Besoffen, nicht?“ Peter kehrt zuriick, setzt sich neben Lenka, als ob nichts ware, und beginnt sie abzuküssen, mich beachtet er nicht mehr. Ich stehe auf und gehe. In der Küche brannte Licht. In der Tür, mit dem Rücken zu mir, stand Otto und versperrte mit der gesunden Hand Elsa den Durchgang. Er war betrunken und stur. Ich stand da und wußte nicht, was ich tun sollte — an ihnen vorbei ins Zimmer gehen, das hätte Elsa in Verlegenheit gebracht, und das wollte ich nicht — oder zurück zur Bank, wo sich Lenka und Peter amüsierten? Also blieb ich stehen. Otto sprach leise und zusammenhanglos, als ob ein Schmerz ihm den Atem nähme: „Verstehst du ... das Ende von allem. So sollte es auch sein ... so sollte es sein ... da gibt es keinen Ausweg ...“ „Laß mich Otto“, hörte ich Elsas Stimme bitten, „ich muß gehen.“ „Wohin, sag doch, wohin?“ „Ich muß Gerhard schlafenlegen.“ „Lüg mich nicht an. Der schläft schon längst, dein Gerhard! Ich bin dir zuwider, ja? Geh!“ schrie er auf einmal hysterisch und trat zurück. Elsa machte einen Schritt auf die Treppe zu, aber Otto faßte sie am Arm und zog sie an sich. Es sah aus, als ob sie sich loszureißen versuchte, doch ich hatte den Eindruck, daß sie gar nicht mehr weggehen wollte. vielleicht war es auch nur mehr Mitleid, das ihr geblieben war. „Laß mich“, sagte sie leise. „Geh“, ebenso unerwartet leise ließ er ihren Arm los. , Otto”, fliisterte Elsa. „Das allerschlimmste ... das habe ich jetzt verstanden ... mich braucht niemand. Ich brauche nichts. Und dich braucht auch niemand. Innen ist alles leer. Irgendetwas ist da herausgefallen ... oder sie haben es im Lazarett herausgeschnitten ... die Teufel standen um den Operationstisch herum ... sie haben mich aufgeschnitten. Sie haben meine Seele herausgenommen. Vielleicht verliere ich den Verstand, aber ich fiihle in mir ein Loch, ich kann es mit den Händen greifen ... geh doch, geh!“ schrie er wieder und griff sich an die Brust. „Du solltest dich hinlegen“, sagte Elsa leise und ruhig, wie ein Arzt. ‚Ich bringe dir ein Schlafmittel.“ Aber sie machte ein erschrockenes Gesicht. ,»Geh weg, ich brauche kein Schlafmittel.“ Er zog sie an sich und kiiBte sie auf die Stirn. Elsa wich zuriick und rannte nach oben, ohne sich umzusehen, und Otto blieb allein. Otto stand eine Weile regungslos, dann stieg auch er die Treppe hinauf. Ich hörte ihn noch murmeln: ,,Teufelskarussell ...“ Ich ging mit Lenka in unser Zimmer. „Wieso bist du heute so früh zurück“ fragte ich. „Er hat auf einmal zu schnarchen angefangen wie ein Bär, und die Geschichte war aus“, antwortete Lenka. ‚‚Und warum hat er da so gechrieen — mit sich selber?“ „Mit Elsa.“ „Wollte wohl was‘, lächelte Lenka spöttisch. Was die sich für Liebhaber geangelt hat, einer hat keine Beine, dem anderen fehlt die Hand. „Dafür hat der deinige Beine und Hände“, erwiderte ich boshaft. „‚Und du hast nicht einmal so einen“, sagte Lenka, und dann redeten wir nichts mehr. Sie legte sich hin und schlief sofort ein, ich hatte keinen Schlaf, also rauchte ich noch am offenen Fenster. Die Nacht war klar, im Dorf war es still. Am Morgen standen wir beim Weckerläuten auf, Lenka war nach langer Zeit wieder einmal ausgeschlafen. „Da schau, der Einarmige geht irgendwohin!“ sagt sie, während sie aus dem Fenster sah. ,,Spazieren wahrscheinlich ... er könnte noch schlafen...“ Otto ging ohne Eile den Weg vom Haus fort. Sein grauer Anzug verschmolz mit dem leichten Frühnebel. Zuerst dachte ich: hat er sich auf einmal entschlossen, heimlich wegzufahren, weil ihm die Sache von gestern Abend peinlich ist — doch er hatte nichts bei sich. „Er geht in die Berge spazieren‘, sagte ich, als auch sein schwarzer Hut im Nebel verschwand. „Mitsamt seinem Katzenjammer!“ vermutete Lenka. Hatte er noch einen Schnaps getrunken, wäre ihm gleich besser. Vielleicht hatten wir beide recht, mag sein, daß sich Otto entschlossen hatte, spazierenzugehen, weil er sich nicht wohlfühlte; aber er hat sich einen Kilometer außerhalb des