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beklagenswerten Zustand der deutschen Rassenkunde schildern. Viel wichtiger war jedoch, daß Professor Kallenbruck, wenn er ganz ehrlich zu sich war, selbst mit seinem letzten Buch nicht recht zufrieden sein konnte. Er brauchte da nur an das ziemlich reichhaltige Material zu denken, das er im Laufe seiner zweimonatigen Studienreise durch die deutschen Konzentrationslager für seine neue Arbeit „Über den wohltuenden Einfluß der Sterilisierung auf die intellektuellen Fähigkeiten von Schizophrenen und asozialen Individuen“ hatte zusammentragen können. Einige Stellen aus seinem letzten Buch kamen ihm in diesem Zusammenhang etwas oberflächlich vor. Der Professor dachte hier insbesondere an einige Absätze im Kapitel über die typischen Merkmale der semitischen Nase als einer klar ausgeprägten rassischen Minusvariante und über den Einfluß der Nasenform auf die seelischen Eigenarten des Judentums. Auf diesen originellen Gedanken, auf den weder Gobineau noch Ammon oder Lapouge, ja nicht einmal Chamberlain beziehungsweise die zeitgenössischen Rassenkundler gekommen waren, hatten Professor Kallenbruck die Arbeiten einiger deutscher und englischer Laryngologen gebracht, die Tausende Schüler untersucht und so den offenkundigen Einfluß pathologischer Deformationen der Nasenhöhle auf die intellektuellen Fähigkeiten der Heranwachsenden bewiesen hatten. Im Vergleich zur idealen Geradheit der griechisch-nordischen Nase stellte die semitische Nase — und daran konnte es keinen Zweifel geben - eine klare pathologische Deformation dar. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sie ihren subjektiv-pathologischen Charakter verloren und war ein genotypisch bedingtes Rassenmerkmal geworden. Der Einfluß dieser Deformation auf die Denkweise und auf die psychologischen Besonderheiten des Judentums war ein völlig offensichtliches Faktum, es bedurfte keinerlei besonderer Beweise. Bis dahin war die tadellose Logik der Schlußfolgerungen über jeden Zweifel erhaben. Die Schwierigkeiten begannen nachhher, wo es um die ausführlichere Klassifizierung der Unterschiede zwischen der hervortretenden und gebogenen Nase im Gegensatz zur geraden Nase ging, wie sie der griechisch-nordischen Rasse eigen war. Die deutliche Gebogenheit der bourbonischen Nase, wie sie bei der französischen Dynastie der Bourbonen anzutreffen und unter der französischen Aristokratie bis in die Gegenwart überaus verbreitet war, 36 konnte man noch ohne große Schwierigkeiten mit dem historischen Einfluß des Judentums auf die französische Politik und auf das ganze französische Volk erklären, das recht frivol war, was die Reinheit seines Genfonds betraf. Wesentlich komplizierter war es da schon mit der sogenannten römischen Nase und dem für sie typischen Buckel. Zweifellos stellte die römische Nase ebenfalls eine Abweichung von der klassischen Geradheit der griechisch-nordischen dar. Es wäre allerdings politisch ziemlich unangenehm gewesen, das mit einer Verbindung zwischen Römern und Judentum zu erklären. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wäre es wahrscheinlich außerdem auch nicht überzeugend gewesen. Eine lyrische Beschreibung der mannlichen Schönheit der römischen Nase im Gegensatz zur groben Verdickung und Formlosigkeit der semitischen stellte den wißbegierigen und anspruchsvollen Intellekt von Professor Kallenbruck, der an strenge wissenschaftliche Abgrenzungen gewöhnt war, ebenfalls nicht zufrieden. Beiworte wie ,,gemeifelt oder ,, Adlernase“ waren Kriterien, die eher in die Asthetik denn in die Anthropologie gehörten. Diese Schwachstelle des insgesamt zweifellos glanzenden Buches kostete den gewissenhaften Professor nicht nur vor sondern auch nach dem Erscheinen seiner Studie zahlreiche schlaflose Nächte. Die von ihm nach langen Überlegungen getroffene flexiblere Abgrenzung zwischen dem griechisch-nordischen und dem semitischen Nasentyp legte als Grundkriterium nicht mehr den verhängnisvollen Buckel, sondern den Buckel in Verbindung mit der Hypertrophie der paarigen dreieckigen Glasknorpel fest. So konnte man ohne Gedankenakrobatik die mißratene römische Nase unter den zahlreichen Mutationen der griechischnordischen einordnen. Der Professor war in den Korrekturfahnen bis zu dieser Stelle gelangt und las sie nun erneut durch, worauf er in Nachdenken versank. Wegen der eingefügten Korrekturen mußte man wahrscheinlich auch an der Beschreibung der griechischnordischen Nase selbst etwas ändern. Ohne von ihrer idealen antiken Geradheit abzuweichen, mußte man einige Zugeständnisse zugunsten ihrer weiter verbreiteten, sagen wir sogar, ihrer vulgäreren Abarten machen. Einen ausgezeichneten Prototyp dieser verbreitetsten arischen Nase stellte die Nase von Professor Kallenbruck selbst dar, tadellos gerade, aber ein wenig fleischig und an der Spitze leicht verdickt. Um sich auch hier bei der Beschreibung nur an die präzise Sprache der Wissenschaft halten zu können, nahm der Professor einen Gleitzirkel aus dem Kasten, wie er in solchen Fällen von Anthropometern verwendet wird, ging zum Spiegel und schickte sich an, die notwendigen Messungen vorzunehmen. Aber nach einem Blick in den Spiegel wich er zurück und ließ den Zirkel geräuschvoll fallen. Aus dem Trumeau blickte ihm sein eigenes, etwas aufgeschwemmtes Gesicht mit den spärlichen auf die Schläfen gekämmten Härchen und mit dem kurzen, der nationalen Mode entsprechenden Schnurrbart entgegen. Aber über dem Schnurrbart erhob sich anstelle der gutbekannten geraden und etwas pickeligen Nase zwischen den erschrockenen Augen eine riesige schamlos-semitische Hakennase. Der Professor berührte die Nase mit der Hand, in der Hoffnung, sie wäre die Folge einer optischen Täuschung oder einer momentanen Halluzination. Aber — oh weh — seine Finger fühlten einen großen fleischigen Zinken. Das war keineswegs nur mehr ein kleiner römischer Buckel, das war ein richtiger Höcker, der da unverschämt zwischen den Triefaugen hervorragte, ein elastisches Stück fremden Fleisches, das fest die unheilvolle Wölbung der Dreiecksknorpel umhüllte! Professor Kallenbruck war ein gläubiger Mensch, deshalb war es auch nicht beschämend und erstaunlich, daß er, nachdem er seine Meinung über die Zuverlässigkeit der eigenen Gefühle geändert hatte, instinktiv die Augen gen Himmel erhob und dreimal hintereinander in die Ecke spuckte. Als Professor Kallenbruck daraufhin wieder in den Spiegel blickte, mußte er sich davon überzeugen, daß die riesige rote semitische Nase mit den kaum merkbaren lilafarbenen Äderchen nach wie vor ein Drittel seines Gesichts einnahm. Sogar das Gesicht des Professors selbst, das immer offen und gutmütig gewesen war, geprägt von reinem germanischen Edelmut, hatte auf einmal einen verschlagenen semitischen Ausdruck angenommen. Der Professor spuckte nochmals zornig und wandte sich ärgerlich vom Spiegel ab. Professor Kallenbruck gab die Hoffnung nicht auf, daß er sich das alles nur einbildete, vielleicht hatte er einfach nur erhöhte Temperatur. Er nahm das Thermometer und steckte es sich unter die Achsel. Mit geschlossenen Augen zählte er bis tausend.