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entgehen lassen und ihn für neue Ausfälle gegen das Dritte Reich nützen. Am vernünftigsten wäre es, wenn Sie Ihrem Tod den harmlosen Anstrich eines Unglücks geben könnten. Ich empfehle Ihnen, sich unter einen Zug zu werfen oder in der Spree zu ertrinken. Alle kennen Ihre Leidenschaft für das Fischen, das ruft keinen besonderen Verdacht hervor.“ „Aber meine Frau und die Kinder!“ stöhnte der Professor verzweifelt auf. „Ach, wir überlassen sie nicht ihrem Schicksal, da können Sie beruhigt sein. Ihre Kinder würden wir nach einiger Zeit in Hilfsschulen überweisen...“ „In Hilfsschulen? Aber dort wird ja sterilisiert!“ wimmerte Kallenbruck. „Sie werden sicher verstehen, daß wir keine weitere Verunreinigung der deutschen Rasse mit Elementen jüdischer Abstammung dulden können. In Ihrem letzten Buch sind Sie sehr richtig auf diese Frage eingegangen... Aber Ihre Frau ist eine tadellose Deutsche, und eine noch relativ junge Frau kann Deutschland gewiß noch mehr als einen kühnen arischen Nachkommen geben. Nach Ihrem Tod werden wir für sie einen passenden Mann suchen. Übrigens hat sie Herr Regierungsrat Oswald von Wildau, ein großartiges Exemplar eines reinblütigen Deutschen, wie es aussieht, immer mit seiner Aufmerksamkeit ausgezeichnet.“ „Oswald von Wildau!“ empörte sich der Professor. ,, Aber der ist doch verheiratet!“ „Was für Albernheiten!“ Von der Pfordten zuckte mit den Schultern. „Und wer sagt so etwas? Sie, Professor Kallenbruck! Haben nicht Sie selbst in Ihrem letzten Buch unumstößlich bewiesen, daß im Interesse der Reinheit der Rasse der Kreis der Produzenten mit einer kleinen Zahl von ausgesuchten Männern begrenzt sein muß?“ „Nein, ich schwöre Ihnen, daß nicht ich das geschrieben habe! Sie bringen da etwas durcheinander! Das ist Mitthard!“ „Großartig! Aber Sie haben ihn in Ihrem Buch zitiert. Oder nehmen Sie nicht etwa mehrfach auf sein Buch ‘Der Weg zur Erneuerung der deutschen Rasse’ Bezug?“ Der Professor senkte ergeben den Kopf. Zusammengekrümmt saß er auf der Bank, er verkroch sich ganz in seinen Mantelkragen. Es war völlig sinnlos, die eigenen Argumente zu bestreiten. Außerdem gab es, nach allem, was passiert war, sowieso kein Entkommen vor Theodor von der Pfordten... Als letzter Hoffnungsstrahl blitzte da in Kallenbrucks Kopf wieder dieser sonderbare Gedanke auf: 40. „Was, wenn von der Pfordten tatsächlich in der Schlacht bei der Feldherrnhalle ums Leben gekommen ist?...“ Es schien dem Professor sogar, als ob er sich an einen Nachruf in irgendeinem widerlichen Oppositionellenblättchen erinnern könnte. „Das Mitglied der Richterkammer Herr Theodor von der Pfordten, Autor der bekannten nationalsozialistischen Verfassung (auf deren Basis ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands für vogelfrei erklärt wurde, sodaß jeder X-beliebige das Recht hat, sie zu töten!), ist — oh, welche Ironie des Schicksals! — durch die Hand eines Ordnungshiiters gefallen: Gefallen durch eine verirrte Polizeikugel beim Brauhausputsch, so konnte er nicht mehr die Realisierung seiner blutriinstigen Verfassung erleben...“ Professor Kallenbruck strengte sein Gedächtnis an. Kam ihm das nur so vor oder war es wirklich so gewesen? Er hörte schon nicht mehr, was ihm von der Pfordten sagte, der nicht müde wurde, an den Tropfen deutschen Blutes in ihm zu appellieren. Der Professor entschloß sich zum Abwarten und wollte den Gegner durch eine unerwartete Frage aus der Fassung bringen. Wenn von der Pfordten dadurch aus der Fassung geriet, bedeutete es, daß er tatsächlich gestorben war. Dann aber waren seine Aussage und seine umfangreichen Verbindungen schon nicht mehr ganz so gefährlich. „Ich glaube, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich verpflichtet bin, Ihnen zu sagen.“ Von der Pfordten beugte sich vor und zog seine Handschuhe an. ,,Sie verzeihen, daß ich Ihnen zum Abschied nicht die Hand gebe. Sie werden selber verstehen, daß das gegen meine Überzeugung wäre. Hören Sie auf meinen freundschaftlichen Rat und bringen Sie es heute abend noch hinter sich, je eher, desto besser. Ich muß Sie warnen: Falls es Ihnen an Tapferkeit ermangelt, selber zu sterben, wird die Partei gezwungen sein, Ihnen dabei zu helfen...“ „Sie haben leicht reden“, sprudelte es aus Kallenbruck in einem letzten Versuch zur Selbstverteidigung hervor, wobei er die Augen nicht von von der Pfordten wandte. „Wenn ich nicht irre, hat Ihnen dabei selbst schon einmal ein Polizist geholfen. Sie sind nämlich seit langem tot, Herr von der Pfordten!“ Kallenbruck neigte sich in Erwartung der Auswirkung seines Schlages nach vorn. „Echte Nationalsozialisten sterben nicht“ , antwortete von der Pfordten ausweichend und lüpfte seine Melone. Er drehte sich um und verschwand langsam in der Tiefe der halbdunklen Allee, und ließ den von Zweifeln erschütterten Kallenbruck in seiner früheren quälenden Unsicherheit zurück. ok Alleingeblieben saß Professor Kallenbruck lange in bittere Gedanken vertieft da. „Eigentlich könnte die Partei in Anbetracht meiner Verdienste bei mir eine Ausnahme machen“, sagte er sich nach widersprüchlichen Überlegungen. „Vielleicht sollte ich versuchen, eine Audienz beim Führer zu bekommen? Stammt denn nicht etwa auch der unsterbliche Zarathustra des Nationalsozialismus, Friedrich Nietzsche, von einer polnischen Familie Nezkii ab? Eine polnische Abstammung ist, wenn man es richtig betrachtet, nicht viel besser als eine jüdische. Wenn man zur polnischen Abstammung von Nietzsche noch seine deutlich ausgeprägte Schizophrenie nimmt, sind auch die Chancen fast gleich... Oh Gott!“ zuckte der Professor zusammen. „Ich denke sogar schon wie ein Jude! Hätte ich es etwa früher je gewagt, so über unseren großen Lehrer zu denken? Nein, von der Pfordten hat recht! Das Erbgift des Judentums hat bereits meine deutsche Seele verdorben. Ich bin nicht mehr Herr meiner Sinne. Für mich gibt es keine Rettung mehr! Wenn ich mich nicht selbst umbringe, werden sie es sowieso für mich tun...“ Mit einem schweren Seufzer erhob er sich von der Bank, mit gekrümmtem Rücken schleppte er sich mühsam aus dem Garten fort in Richtung Spree. Aber die Beine trugen ihn aus alter Gewohnheit zum Gasthaus Löwenbräu. Die riesigen Zeiger der Uhr in der Ecke zeigten sieben Uhr. Ja, das war genau die Zeit, wo sich normal die Stammgäste des runden Tisches beim Löwenbräu, die Gründungsmitglieder der Gesellschaft zum Kampf für die Reinheit der deutschen Rasse, bei einem oder zwei Schoppen trafen, um sich über hochgeistige Themen zu unterhalten und die aktuellen Fragen der Bewegung zu diskutieren. Noch gestern war er hier in seinem bequemen Stuhl gesessen, zu seiner Linken Professor Sebastian Müller, zu seiner Rechten der wackere Doktor Fabrizius Himmelstock, Chefredakteur der ,,Deutschen Medizinischen Wochenzeitung“ und Verfasser der aufsehenerregenden ,,Eugenischen Untersuchungen zur Zusammensetzung der Familien der gesamten preußischen Polizei“. Er hatte gemeinsam mit ihnen ruhig über Sondermaßnahmen zur Verbesserung der katastrophalen Statistik diskutiert, nach der sich