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das lauterwerdende Marschlied über Horst Wessel, der den Wein, die Weiber und die Musik liebte. Das Lied rauschte unter Pfeifengeheul und dem Klirren zerberstenden Glases vorbei und entfernte sich allmählich. „Gehen wir“ , flüsterte der Mann. Er ging vor und deutete Kallenbruck ihm zu folgen. Sie kletterten die enge, gewundene Stiege hinauf in den dritten Stock. Der Professor kam mit Mühe hinauf. Seit seiner Studentenzeit hatte er nicht mehr so viel laufen müssen. Sie gingen durch einen dunklen Gang, dann klopfte der Mann an eine der Türen. Die Türe wurde nicht sogleich aufgemacht. Die Leute hinter der Türe fragten den Ankömmling lange auf Jiddisch aus. Schließlich knarrte der Türriegel... * In dem Raum, wohin der Unbekannte Kallenbruck geführt hatte, stand ein langer Tisch. Auf dem Tisch brannten Kerzen in zwei siebenköpfigen Kandelabern, da standen ein Telefon, zwei Teller mit Matzen, da lagen ein riesiger offener Talmud und ein großer Haufen Goldmünzen. Am Tisch saßen zwölf gebrechliche Juden in pelzbesetzten Rabbinerkappen. Die Juden hatten graue Bärte bis zum Gürtel und lange Schläfenlocken, die gespannt waren wie Federn. Beim Anblick des Professors sprangen alle zwölf Greise mit einer für ihr Alter erstaunlichen Behendigkeit von ihren Sitzen auf und sangen im Chor: Wir sind zwölf, zwölf sind wir, die Weisen von Zion! Heut fressen wir die Welt, die fressen wir heut abend auf... Nachdem sie zu Ende gesungen hatten, machten sie mit ihren Kiefern einige gefräßige Bewegungen, sie klapperten mit den Zähnen und zeigten so bildhaft an, wie dieses Auffressen der ganzen Welt bei einem Abendessen vonstatten gehen würde. Dann tanzten die Alten ein paar Takte auf der Stelle und setzten sich wie auf ein Kommando wiederum an den Tisch, um von neuem in düsteres Schweigen zu versinken. „Wer bist du denn?“ wandte sich der älteste Jude an Kallenbruck. Die Haare wuchsen ihm wermutgrau aus den Ohren und aus der Nase, und buschige weiße Brauen hingen über die Augen herunter, sie sahen aus wie ein zweiter Schnurrbart, der irrtümlich über den Augen wuchs. „Wer ich bin?“ murmelte Kallenbruck gramvoll. ,, Noch gestern war ich ein wohl42 habender und angesehener Mensch, das Oberhaupt einer Familie und der Stolz meiner Freunde. Aber jetzt? Jetzt bin ich einfach ein armer Jude.“ „Welches Unglück hat dich ereilt?“ fragte feierlich wie bei einem schon vorab festgelegten Zeremoniell der Alte mit den zwei Schnurrbärten. „Oh je, Herr Weiser von Zion!“ Kallenbruck seufzte tief auf. „Mich hat ein solches Unglück ereilt, daß Ihr es mir nicht glauben werdet, wenn ich es euch erzähle. Ich hatte eine wunderschöne arische Nase, — ach was fiir eine Nase! — und sie haben mir dafür diesen Kürbis untergejubelt. Ich hatte eine noch junge, recht hübsche Frau, sie haben sie mir weggenommen und ihr befohlen, mit dem verheirateten Herrn Regierungsrat Oswald von Wildau Kinder zu zeugen! Ich hatte Kinder — was für Kinder! — sie geben sie in die Hilfsschule, dort werden sie sterilisiert, damit sie sich nicht weiter vermehren können. Ich war geehrt und angesehen, und jetzt kann ich mich nicht mehr auf der Straße blicken lassen, sonst schlägt mir irgendein Schmierfink die Zähne aus und besudelt meine Kleider. Sagen Sie, Herr Weiser von Zion, hat es schon irgendwann einmal einen Menschen auf der Welt gegeben, der unglücklicher gewesen wäre als ich es bin?“ Da schüttelten alle zwölf Weisen mitfühlend die Häupter, und der Alte mit dem Gesicht, das aussah, als sei es von Wermut überwuchert, fragte zum dritten Mal: „Willst du dich an denen rächen, die dich beleidigt haben?“ „Ob ich mich rächen will? Würdet Ihr Euch nicht für Euer ruiniertes Leben rächen wollen, für Eure beleidigte Frau, für Eure sterilisierten Kinder? Aber sagt, Herr Weiser von Zion, was kann ich denn tun?“ „Gut“, nickte der Alte. „Wir werden dir helfen. Schwöre nur, daß du für immer bei uns bleiben und niemals niemandem nichts unter keinen Umständen nicht erzählst. Da auf dem Teller sind Matzen. Sie sind mit dem Blut der Herren Nationalsozialisten angerührt, die von Herrn Hitler persönlich erschossen wurden. Brich ein Stück davon ab und iß es!“ „Hol sie doch alle der Teufel!“ rief der Professor aus, brach sich ein großes Stück von der Matze ab und verschlang es, ohne zu kauen. Da fühlte er plötzlich, wie sich seine Gedanken mit einer ihm bis dahin unbekannten Listigkeit und Tücke erfüllten, und wie in seinem Kopf ein zwar noch trüber aber dafür ausgesucht teuflischer Plan heranreifte. „Wie willst du dich denn an ihnen rächen?“ fragte der Alte. „Wartet, wartet, ich habe eine Idee!“ verkündete Kallenbruck eifrig. ‚Sie haben einen genealogischen Garten, wo nach dem Geburtenregister der genaue Stammbaum eines jeden Deutschen bis zurück ins zehnte Glied nachvollzogen werden kann. Jeden Monat bringen sie entsprechend den neuaufgefundenen Dokumenten Berichtigungen am Stammbaum an. Kaufen wir alle Archivare Deutschlands und schreiben jedem reinrassigen Deutschen einen jüdischen Vorfahren ins Geburtenregister hinein! Morgen wird dann ganz Deutschland wissen, daß Göring keineswegs ein Göring, sondern ein Hering ist, ein einfacher jüdischer Hering, und daß es keinen einzigen Nazi gibt, dessen Großvater oder zumindest dessen Urgroßvater nicht ein Jude gewesen wäre!“ Nachdem die zwölf Weisen die Worte Kallenbrucks gehört hatten, standen sie auf und tanzten einen bolschewistischen Hopak. Als sich das erste Aufwallen der allgemeinen Begeisterung gelegt hatte, wandte sich der Alte mit dem doppelten Schnurrbart an Kallenbruck: „Bis jetzt waren wir zwölf Weise von Zion. Jeder von uns hat sich eine ganze Menge Ränke zum Untergang der christlichen Welt ausgedacht, aber niemand ist bis jetzt auf einen genialeren Plan gekommen.Du hast dir damit den Ehrentitel eines Weisen von Zion verdient. Von heute an sind wir dreizehn!“ Da verfielen die Greise in ein solches Frohlocken, daß sie sich lange nicht beruhigen konnten. Sie legten Professor Kallenbruck einen Gehrock aus Atlas um die Schultern, auf den Kopf taten sie ihm eine große Rabbinerkappe und sie setzten ihn an den besten Platz. Der Professor bemerkte verwundert, daß aus seinem rasierten Kinn ein langer silberner Bart floß, er war wie Wasser aus dem biblischen Felsen nach der Berührung mit Moses’ Stab. Als es still wurde, begannen die Alten die Einzelheiten des Racheplans zu beraten. „Wenn innerhalb eines einzigen Tages jeder Deutsche je einen jüdischen Vorfahren bekommt, müssen sie sich wohl oder übel damitabfinden, dann kommt es zwischen ihnen zu keinem Streit mehr“, sagte der schwarzschimmernde Greis mit dem langen, raubtierzahnähnlichen grauen Schnurrbart, der ihn einem Walroß ähnlichsehen ließ. Deshalb sollten wir meiner Auffassung nach nicht allen auf einmal einen verpassen, sondern das nach und nach tun: anfangs nur den