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nicht Menschen zweiter Klasse, sondern zufällige Menschen, man hat uns nicht in eine Klasse eingeteilt, wir gehören gar nicht zu den Eingeteilten. Irgendwo hinten, wo die Stadt ansteigt, beginnt die Welt der eingeteilten Menschen. Die paar Bäume, der gepflasterte Platz, auf dem die Kinder spielen, liegen in einem verlorenen Seitenblick derer, die über die Brücke fahren, mit ihren Fahrzeugen wieder in die Stadt herunterfallen und vor sich die Turmspitze des Stephansdoms über den Häusern haben. Das Zufällige unseres Daseins ist voll sanfter Duldsamkeit, wir bewegen uns still aneinander vorbei, haben uns ein Bett des Abstands in unsere täglichen Wege gegraben. Was neu ist, geschieht anderswo, die Anbahnung einer Ehe, die Bekanntschaft eines Zuhälters mit einem verzweifelten Mädchen, oder die Aufhebung und Einführung der Visapflicht, hier lernt niemand niemanden kennen, lernt nur diese bittere und sanfte Duldsamkeit, die sich schmiegsam vor ihm auftut und hinter ihm schließt.“ (Aus: Konstantin Kaiser, „Auf den Straßen gehen“, Innsbruck 1996). und begingen Selbstmord. In Palästina schüttelte der Yischuw den Kopf über die Jeckes, die an ihrem Deutsch festhielten, und kein Hebräisch konnten. In den USA erregten ihr Kunstbegriff und ihre Umgangsformen allenfalls Verwunderung. Die Nationalsozialisten wollten ihre Namen auslöschen, und lange Zeit waren sie in der Tat vergessen, verschmäht. Kaum jemand bat sie zurückzukehren. Die Widerstandskämpfer galten vielen Österreichern nach 1945 als Fahnenflüchtige. Jörg Haider, der heimische Populist und erfolgreichste Rechtsextremist Europas, bezeichnet Widerstandskämpfer als ‚Verräter‘ und weigerte sich als Landeshauptmann, sie auszuzeichnen. Der Vater, Robert Haider, der 1934 als illegaler Nazi mit vom österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil das Große Ehrenzeichen für besondere Verdienste um die Republik. Wenn dieser Staat sich noch ernst nimmt, wenn er eine Antithese zum Nationalsozialismus sein will, dann muß er Robert Haider die Ehrengabe wieder aberkennen. Doch keine Illusionen; allzu viele stimmen Robert Haiders Sohn zu, wenn er erklärt, die Wehrmacht hätte durch den Untergang des Kommunismus Recht bekommen und der Kampf an der Ostfront wäre in Wahrheit gegen den Feind des Westens gerichtet gewesen. Im Boulevard ist zuweilen zu lesen, die Fronten und Allianzen seien damals falsch verlaufen. Selbst in liberalen Medien wird der Antifaschismus heutzutage abgeurteilt, weil in seinem Namen auch Unrecht geschah. Aber keiner täusche sich; wer gegen die Nazis antrat, mag nicht unbedingt auf Seiten einer unantastbaren Gerechtigkeit gestanden sein, kämpfte jedoch gegen die schrecklichste Form der Barbarei; gegen das Böse jener Epoche. Der Antibolschewismus der Nazis läßt sich nicht mit dem Antikommunismus der westlichen Alliierten gleichsetzen, denn der Nationalsozialismus führte einen rassistischen Vernichtungskrieg ohne Grenzen; alles, was sich seinem globalen Totalitarismus in den Weg stellte, ob in Moskau oder New York, wurde von ihm verjudet geheißen und sollte ausgerottet werden. Deshalb mußte das Dritte Reich jenseits aller Taktik zum Todfeind beider Systeme, der bürgerlichen Demokratien und der stalinistischen Staaten, werden. Ich bin ein Leser der Zeitschrift, deren fünfzehntes Jubiläum wir heute begehen, und ich will auf keinen Fall auf sie verzichten müssen. ‚‚Mit der Ziehharmonika“ tritt der Verleugnung der Vergangenheit entgegen. Hier kommen die Verfolgten zur Sprache, und sie entlarven die Illusion einer selbstvergessenen Zeit, die uns glauben machen will, es gäbe ein Deutsch jenseits der Geschichte. Hier wird ihren Worten der gesellschaftliche Raum zugestanden, den sie beanspruchen. In der Zeitschrift wird nicht verschwiegen, daß viele von ihnen sich in unterschiedlichen Fraktionen politisch engagierten, doch wird ebensowenig unterschlagen, daß die meisten als Juden verjagt oder ermordet worden sind. Ohne Verweis auf ihre Herkunft würde ein Großteil der Literatur des Exils und des Widerstands im Sinne des nazistischen Antisemitismus ‚‚entjudet“ werden. Ich bin ein Leser jener Zeitschrift, deren Jubiläum wir heute begehen. Wie gesagt; ich bin ein Nutznießer, und ich möchte mich bei der Redaktion deswegen bedanken, doch will ich zudem aus rein egoistischen Motiven dringendst darum bitten, „Mit der Ziehharmonika“ möge mir, samt Erlagschein, auch in den nächsten fünfzehn Jahren zugeschickt werden. Doron Rabinovici, geboren 1961 in Tel Aviv, übersiedelte 1964 mit der Familie nach Wien. Ab 1979 Studium der Medizin, Ethnologie und Geschichte an der Universität Wien. Sponsion zum Mag.phil. 1991. Beginn der Arbeit an einer Dissertation mit dem Titel ‚Instanzen der Ohnmacht. Die Reaktion der israelitischen Kultusgemeinde Wien auf die nationalsozialistische Verfolgung 19381945“. Begründer der Wiener Freundesbewegung der israelitischen Friedensbewegung ,,Schalom Aschaw — Peace Now“. Seit 1986 Vorstandsmitglied des Republikanischen Clubs — Neues Osterreich. Freiberuflicher Historiker und Schriftsteller. Von 1993 bis 1994 mit einer wissenschaftlichen Studie iiber die Perzeption der USA in Österreich während und nach dem Ende beider Weltkriege beschäftigt. Literarische und wissenschaftliche Beiträge in Sammelpublikationen. Lebt in Wien. Werke: Papirnik (Stories, Frankfurt 1994); Auf der Suche nach M. Roman in zwölf Episoden (Frankfurt 1997). — Anmerkungen eines eingesprungenen Lesers“ wurden von D. Rabinovici als Einführung zur MdZVeranstaltung im Literarischen Quartier Alte Schmiede am 16.2. 1998 gelesen.