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viel zu wünschen übrig, soviel, daß Bruno Frei in seiner Einleitungsansprache davor warnen mußte, sich durch die vorgetragenen Texte irreführen zu lassen. Ich kann es verstehen, daß man einen Dichter wie Mörike, der auch ganz außerhalb unserer Welt steht, durch einen Vortrags-Abend ehrt, sei es heute oder wann immer; aber ich kann der Idee, eine so zeitbetonte Erscheinung wie gerade Kraus aus dem Winkel zu ziehen, keinen Geschmack abgewinnen. Und das umso weniger, als die Worte Bruno Freis, die meiner Ansicht nach das Beste des Abends darstellen, in erfreulicher Klarheit und Sachlichkeit feststellten, das Kraus’ Kriegseinstellung dem imperialistischen Weltkrieg von 1914 entspricht, während wir heute einen Freiheitskrieg erleben, dem gegenüber Abscheu und Grauen nicht genügen. Kraus verneint mit Recht ‚‚seinen“ Krieg, wir hingegen bejahen mit demselben Recht den „unseren“. Außer Blum, der seine humoristischen Sachen sehr hübsch vortrug, wirkten mit: Die immer gute (wenn auch manchmal etwas undeutliche) Steffanie Spira und Guenther Ruschin. Man verzeihe ihr, daß ich sie nicht kritisiere. Unter Kollegen ist es immer häßlich, ob man lobt oder tadelt. Demokratische Post, 15. Februar 1945, S. 2. Marcel Rubin Zu einer Karl Kraus-Kritik Nachstehend veröffentlichen wir eine Zuschrift, die die Redaktion der ,, Demokratischen Post“ von Marcel Rubin erhalten hat. Marcel Rubin setzt sich mit der Kritik, die Michael Eduard Flürscheim über den letzten Heine-Klubabend geschrieben hat, auseinander. Michael Eduard Flürscheim ist bei seiner Besprechung der Veranstaltung des HeineKlubs ‚nicht ganz klar geworden, welchem seltenen Gedankengang wir diesen KrausAbend verdanken“. Ich will es ihm kurz zu erklären versuchen: Kraus war einer der rücksichtslosesten Chronisten seiner Zeit und wurde auf dem Höhepunkt seines Lebens konsequent zu einem hassenden Spötter gegen das Hauptübel seiner Epoche, gegen den deutschen und den ihm verbündeten Osterreichisch-ungarischen Imperialismus. Seine Schilderung der Unterdriickerund Untertanenmentalität aus dem deutschen Reiche preussischer Nation während des ersten Weltkrieges ist von erschütternder Wahrheit und heute, wo die Vernichtung dieses Ungeistes aus Blutgier und Gehorsam zu einer Lebensfrage für die Welt 12 schen spanischen Dichters Jose Bergamin. Unter den Tschechoslowaken war Egon Erwin Kisch, gewählter Stadtrat von Prag, die brillanteste Persönlichkeit. Der Jugoslawe Theodor Balk expedierte mit alliierten Konvois laufend beachtliche Sendungen von Medikamenten und sanitärem Material in seine kämpfende Heimat. Die zahlreiche deutsche Emigration hatte auch eine ganze Plejade prominenter Persönlichkeiten in ihren Reihen: Schriftsteller, Schauspieler, Politiker. Und Österreich? Auch von dort gab es Schriftsteller und Schauspieler. Aber Österreich ohne Musik? — Dieses Kapitel versahen die Dirigenten Ernst Römer, Carl Alwin, der Komponist Marcel Rubin... Diesen Marcel Rubin, den ich aus Mexiko als einen eher stillen jungen Mann und beispielhaften Sohn seiner alten Eltern in Erinnerung habe, hörte ich in den Nachkriegsjahren oft im Wiener Rundfunk kompetent über das Musikschaffen unserer Epoche sprechen und fand seinen Namen auf Programmen mit interessanten Werken. Was immer ich über Mexiko höre, berührt mich. Zum Schluß kommend gestehe ich nicht sicher zu sein, ob dieses Knäuel von Reminiszenzen paßt. Unser guter Kisch pflegte von sich, zu recht oder zu Unrecht, zu behaupten, er sei ein Staatsmann und kein Politiker. Nun, ich bin weder eine Staatsfrau noch Politikerin, bin einfach ein Wesen, das viel erlebt hat und damit weiterlebt. Und so bitte ich um entsprechende Nachsicht. Was immer ich über Mexiko höre, berührt mich. Prag, Oktober 1997 Christian Kloyber Mexiko - Exilland 1938 1935-1938: Wien - Mexiko ‚‚ein virtuelles Exil“ Als im Februar 1974 der mexikanische Präsident Luis Echeverria Alvarez mit dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky zusammentraf, der Anlaß war das Treffen des Club of Rome in Salzburg (‚Grenzen des Wachstums“), wurde auch an die außenpolitische Intervention Mexikos am 19. März 1938 erinnert. In den Pressemappen der mexikanischen Journalisten, die den Präsidenten und früheren Innenminister Mexikos nach Wien begleiteten, las man am 11. Februar 1974 eine kurze Zusammenfassung auf Spanisch, in deutscher Übersetzung etwa: Im Augenblick größter Schwierigkeiten Österreichs war gerade Mexiko das einzige Land, das in aller Form vor den Nationen des Völkerbundes in Genf Protest gegen den „Anschluß“ erhob. In einer diplomatischen Note, vom mexikanischen Delegierten vor dem Völkerbund unterzeichnet, Isidro Fabela (1822-1964), und an den Generalsekretär des Völkerbundes, Joseph A. Avenol gerichtet. Am 19. März 1938, also schon sechs Tage nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich.! Bruno Kreisky und Luis Echeverria Alvarez verstanden einander ausgezeichnet; und später erinnerte sich Kreisky an eine scheinbar zufällige ‚Bedeutung‘ der Mexikanischen Revolution für die Wiener Sozialdemokratie in der Diktatur des Ständestaates. Nicht nur scheinbar zufällig, vielleicht ohne vordergründigen Zusammenhang, ein anekdotischer Zusammenhang für den Geschichtenerzähler: Im Wiener Kreuz-Kino lief damals ein reißerischer Film über einen Helden der Mexikanischen Revolution, der den Anlaß bot, für den Sozialismus zu demonstrieren, der in der österreichischen Realität der Ersten Republik nach 1934 verboten und verfolgt wurde: ,, Viva Villa“ 2 Schon damals bot ein voller Kinosaal ,,Flucht“, eine virtuelle zugegeben — ehe der Begriff „virtuell“ zur Mode wurde — und der Anlaß war eine zentrale Figur der Mexikanischen Revolution, General Francisco Villa, vom Volk familiar ,,Pancho“ genannt. Der inhaltliche Bezug der versammelten Jungsozialisten zu Mexiko auf einen einfachen Nenner gebracht: Die Mexikanische Revolution nach 1910 war eine sozialistische Revolution, die Verfassung Mexikos von 1917 ist eine Sozialistische (die in ihren Grundziigen noch heute Giiltigkeit hat); das staatliche Bildungssystem in Mexiko ein Sozialistisches. ; Bruno Kreisky verstand sich ganz ausgezeichnet mit dem Präsidenten der Mexikanischen Republik, und keiner der Anwesenden erinnerte sich an eine dunkle, unmenschliche Rolle, die Luis Echeverria Alvarez 1968 als Innenminister gespielt hatte: Ein