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widerstehlichen Humor und die ungestiime Kraft der Darstellung hervor. Ein solcher Erfolg eines österreichischen Autors im Ausland verdient, wiewohl das Werk nur in der englischen Fassung vorliegt, auch in der Heimat beachtet zu werden. Der neue Roman von Leo Katz hat als Schauplatz dieselbe Stadt Sereth wie sein erster Roman ‚Totenjäger“. Zeit der Handlung etwa 30 Jahre früher. Die Erhebung der hungernden rumänischen Bauern gegen die reichen Grundbesitzer im Jahre 1907, ein schwacher Nachhall der Russischen Revolution von 1905, dauerte nur wenige Tage. Die unbewaffneten Bauern wurden von General Avarescu und seinen schwerbewaffneten Truppen mörderisch geschlagen. „Aber es ist erst Saatzeit“, sagt der Bauernführer, ‚und unsere gute Ernte wird kommen, wenn wir bessere neue Saaten geworfen haben“. In beiden Romanen wird das Leben des Bukowiner Städtchens Sereth mit dem großen, geschichtlichen Hintergrund der Donaumonarchie verknüpft. Diese Kleinstädter leben noch innerhalb des engen Horizonts der alten gesellschaftlichen Ordnung. Das Interesse reicht nicht weit über den Stadtrand und über die angrenzenden ländlichen Bezirke hinaus. Das Erstrahlen der ersten Gaslampen in dem kleinen Ort wird weit mehr gewürdigt, als die Verlautbarung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechtes. Aber das Städtchen Sereth ist keine gewöhnliche Kleinstadt, sondern eine Grenzstadt zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien. Hier leben miteinander Rumänen, Ukrainer, Juden, und dazwischen die hochnäsigen Deutschen, die alle verachten und gegeneinander hetzen. Wie das friedliche Nebeneinander ein jähes Ende nimmt, in dem Augenblick, wo den politischen und kommerziellen Spekulanten das Ende dieses Friedenszustandes Gewinn bringen kann, ist der Gegenstand des Romans. Mit zorniger Satire schildert der Verfasser die Brandstiftung in kleinem Ausmaß, ewig gültiges Beispiel der großen. Scharfe Charakterisierung und gütiger Humor fesseln die Teilnahme des Lesers. Wir erleben den Gymnasialprofessor, den Bierbrauer, den Revolutionär, den Spion, den Bauer, den Bordellbesitzer an dem Faden der logisch sauberen Handlung aneinandergereiht. Wie in einem Kern, der keimen wird, sieht man in dem Mikrokosmos des Grenzstädtchens Sereth die guten und die bösen Kräfte wirken, die in der großen Welttragödie 30 Jahre später aufeinanderstoßen werden. So entstand aus der Hand eines vorbildlichen Er24 Im Gegensatz zum zurückgezogenen Fernando del Paso bewegt Pörez Gay sich intensiv in den Korridoren der Macht. Der 1943 Geborene fungiert als einer der Programmdirektoren des staatlichen Kulturfernsehens ‚Canal 22“. In dieser so typisch mexikanischen Kombination von Geist und Macht ist nicht nur das Auto mit Chauffeur selbstverständlich, das den Besucher zum Interviewgespräch abholt, sondern sie rechtfertigt auch die Extravaganz, im „‚Canal 22“ üppig Östereichisches vorzuführen: Gulda mit Mozart, Habsburger-Filme, Sissy natürlich, Wien-Orchester, literarische und politische Austria-Dokumentationen. Und immer obenauf: Musil! Vordergriindig basiert Mexikos Wien-Entdeckung, die sogar eine gewisse Habsburger-Nostalgie miteinschließt, auf der unermüdlichen Aufbereitung österreichischer Literatur durch Juan Garcfa Ponce, dessen Körper von Multipler Sklerose verwüstet wird, dessen Geist jedoch souverän in mitteleuropäischen Räumen wandert. Garcia Ponce begann in den sechziger Jahren — angesichts der damaligen Introvertiertheit und Dritte-Welt-Obsession der mexikanischen Revolution ungewöhnlich — mit literaturhistorischen Entdeckungen bei Musil, Doderer, Broch, Freud. Claudio Magris’ These vom Habsburger-Mythos in der österreichischen Literatur mag geholfen haben. Mexikos immer interessante Literaturbeilagen der Wochenendausgaben führender Tageszeitungen gewöhnten sich daran, aus der Feder Garcia Ponces ellenlange, hermetische Textinterpretationen österreichischer Autoren abzudrucken. Als Elias Canetti 1981 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, konnte Garcia Ponce, allein auf weiter Flur, den „Österreicher“ prompt dokumentieren. Anschließend kam es zu einer wahrhaftigen Österreich-Entdekkung, die schließlich mit Perez Gay zum Gipfel führte. Der blutjunge Hector Orestes Aguilar, der ‚„‚pasiön austrofilica“ hoffnungslos verfallen, füllte im September 1991 eine ganze Nummer der Zeitschrift „‚Textual“ mit Austriaca. „Universidad de Mexico“, die geachtete Monatszeitschrift der UNAM-Staatsuniversität, machte die Ausgabe vom April 1988 mit Texten über das Wien des Fin-de-siecle. Marco Antonio Campos veröffentlichte in eben dieser Zeitschrift im Dezember 1992 seinen kritischen Text über das zeitgenössische Wien. ‚Universidad de Mexico“ kehrte im Juni 1993 zum Österreich-Thema zurück, diesmal erweitert um Mitteleuropa, so daß neben Claudio Magris auch Italo Svevo und triestiner und furlanische Autoren herumgeisterten. „Plural“, die Monatsschrift für Kultur der offiziösen Tageszeitung „Excelsior“, widmete die Ausgabe vom November 1992 (zusammengestellt von Erich Hackl) jungen Österreichern. Peter Handke wurde aufgeführt. Sogar Tina Modbotti, die vergessene, inzwischen jedoch wiederentdeckte Photographin und Revolutionärin, wird, da in Udine geboren, irgendwie als Österreicherin verstanden. Zufall ist, daß Trotzkis Haus im Coyoacän-Viertel von Mexiko-Stadt, aus Angst vor Stalin zur Festung ausgebaut und doch nicht vor dem Eispickel des gedungenen Mörders schützend, an der Wien-Straße (calle Viena) liegt. Indes, reflektiert die „‚pasiön austrofilica‘“ mit ihrer Fixierung auf das Fin-desiecle-Wien eine Notwendigkeit? Denn historische Logik sollte den Mexikanern eigentlich gebieten, sich mit dem sozialdemokratischen Wien der Zwanziger zu befassen. Aber nein, die ,,pasién austrofilica“ umarmt leidenschaftlich Musil, Doderer, Roth, Kraus, Kafka, Klimt, neuerdings auch Ingeborg Bachmann. Warum? Eine Antwort darauf meine ich in der großen Metamorphose Mexikos zu finden: Mexiko verhüllt seit 1988 seine nationalrevolutionäre Vergangenheit und umwirbt frenetisch die Vereinigten Staaten, früher der imperialistische Gottseibeiuns, aber heute der bedingungslos nachgeäffte, neoliberale Nafta-Partner. Damit hofft Mexikos Establishment, seine steckengebliebene Modernisierung wieder flottmachen zu können. An diesem Widerspruch mag die Faszination des Fin-desiecle-Wien hängen: Ja, 1918 warf Mitteleuropa ein ,,Imperio Perdido“ aus, ging ein Reich unter. Aber nichts war determiniert. Intuitiv verstehen Mexikos Intellektuelle aus ihrer räumlichen und historischen Distanz die Kraft der Modernität, wie sie im damaligen Wien pulste, bevor eine leichtfertige Diplomatie den 1. Weltkrieg auslöste, der alles zerstörte. In der heutigen Mexiko-Wende, welche die Revolution abstößt, sind die Nachfahren der Azteken gefordert, ihr Reich, das eines der kulturellen Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten sein muß, zu bewahren. Das zumindest ist die Herausforderung, vor der Mexiko steht. Und deswegen mag Wien — das Wien um 1900 - attraktiv wirken.