OCR
Schicksal einer jüdischen Familie Zuhause in der Dominikaner Bastei, das Geschäft des Vaters in der Seilergasse, die Wohnung der Großmutter nur wenige Gassen entfernt, die Verwandten in der Leopoldstadt, der sonntägliche Spaziergang im Volksgarten. Hans Peter Katz, geboren 1930 als einziger Sohn von Grete und Leo Katz, wächst im überschaubaren Rahmen einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wien auf. Dann der ‚Anschluß": Hans Peters scheinbar wohlbehüteter und vorgeplanter Lebensweg endet abrupt, wird zur „Laufbahn“ eines exilierten Kindes: Die vorausblickende Mutter schickt den Achtjährigen mit dem Kindertransport alleine nach Belgien, ein Koffer und Essen für vier Tage als einzige Habe begleiten ihn. Die Eltern, die Großmutter und viele Familienmitglieder werden Opfer des Holocaust. Nach der Besetzung durch die deutschen Truppen versteckt sich der Flüchtling mit seinen jüdischen Pflegeeltern, erträgt die Beengtheit des Verstekkes nicht, lebt mit falschen Ausweispapieren auf der Straße, leistet Kurierdienste fiir die belgische Résistance. Niichtern berichtet der Autor im vorliegenden spanischsprachigen Erinnerungsband iiber seine Kinderjahre — tiber das Leben eines Kindes, das lernt, eine unvorhersehbare, bedrohliche Gegenwart und Zukunft in gelebte Alltagsrealität zu verwandeln. Der Leser erfährt nicht nur von den Ängsten des Exils, sondern auch davon, wie ‚Jean‘, zu dem Hans Peter mittlerweile wurde, die Freiheit eines unbeaufsichtigten Lebens genießt, wie der Pubertierende in die Welt der Erwachsenen findet, das andere Geschlecht ‚,‚entdeckt‘, die ersten sexuellen Erfahrungen sammelt. Das letzte Drittel des Bandes erzählt von der Zeit nach dem Krieg, die für den heimatlosen jungen Mann noch lange nicht die Rückkehr in einen ,,ruhigen Fluß des Lebens“ bedeutet, er wandert zu seinen nächsten verbliebenen Verwandten nach Mexiko aus. Anpassung an die „Neue Welt“ und Suche nach seiner Identität, seinen jüdischen Wurzeln, bestimmen die nächsten Jahre. Erst 1952, als Hans Peter, Jean — Hans, Peter, Joel in Mexiko - nach der Einbürgerung in Mexiko seinen ersten Reisepaß erhält, kann er sich ‚‚wie die anderen“ fühlen, an einer Zukunft arbeiten. Die Vergangenheit allerdings bleibt begraben. Bei den Verwandten stößt er auf eine 26 Die Protesterklärung Mexikos vom 19. März 1938 unterstrich in bester liberaler und gegen die Intervention gerichteter Tradition die Illegalität der Annektion und rief dazu auf, der Resolution des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, die am 5. September 1931 verabschiedet worden war, zu gehorchen. Diese Resolution legte der österreichischen Regierung die Verpflichtung auf, zumindest die Zustimmung des Völkerbund- Rates einzuholen, bevor sie die Grenzen und die Existenz Österreichs als autonomer Staat ändere. Außerdem wurde in der Resolution betont, daß die Kapitulation der österreichischen Regierung vor dem deutschen Angreifer kein Grund dafür sei, daß der Völkerbund seinerseits diese Tatsache ohne Protest akzeptiere. Die Verteidigung Österreichs kam damals der Verteidigung der Freiheit eines Volkes und des Rechtsstaates gleich. In den Dokumenten der mexikanischen Diplomaten scheint Österreich als Land mit zwei Gesichtern auf: Einerseits als Opfer einer politisch-militärischen Verschwörung, als Land mit „erhabener Geschichte“, wie De Icaza es beschreibt, das einen „politischen Tod“ erlitt. Andererseits wird es als unbesonnener Komplize eines imperialistischen und totalitären Regimes gesehen. Angesichts dieser beiden Extreme bewies Mexiko bei seiner Protesterklärung bezüglich der nationalsozialistischen Okkupation viel Taktgefühl: Der Protest stellte nicht ausschließlich eine moralische Verurteilung im Namen abstrakter demokratischer Werte dar, die zweifellos ausgereicht hätten, um den ideologischen Prinzipien [des Faschismus] entgegengesetzt zu werden, jedoch nicht stark genug waren, eine politische Operation jener Größenordnung zu rechtfertigen, die man mit Hilfe des Völkerbundes in Angriff nehmen wollte. Die Erklärung Mexikos verurteilte auch die Willkür der deutschen Regierung, sowie die absolute politische Illegalität ihrer Taten. Durch den Protest gegen den Anschluß hat Mexikos Diplomatie all jenen eine Lektion politischer Intelligenz und juristischer Würde erteilt, die trotz ihrer Einwände gegen den deutschen Faschismus absolut nichts getan hatten, um ihn aufzuhalten. Diese Lektion ist auch noch heutzutage ein leuchtendes Beispiel. Das „Österreichische“, von Mexiko aus gesehen Viele MexikanerInnen, die Österreich doch auf irgendeine Weise als europäisches Land einordnen, wissen höchst selten, in welcher Region des Alten Kontinents es sich befindet. Die Vorstellung von Mitteleuropa, von einem „Europa in der Mitte“, könnte einigen durchschnittlich gebildeten Bürgern sogar etwas seltsam vorkommen, da sie immer noch nur an die Existenz von zwei großen wirtschaftlichen und geopolitischen Blöcken denken. So fällt es ihnen schwer, zu bestimmen, wo das Land liegt, welche Nachbarstaaten es umgeben, was für Sprache gesprochen wird, wie seine Flagge aussieht oder welche Farben sie aufweist, aber die meisten wissen doch, daß es sich um ein Land handelt, das weder amerikanisch, noch lateinamerikanisch oder hispanisch ist. Da es keine genaueren Bezugspunkte gibt, stellt das Bild des ,,tirolés“, also des Tirolers, jenes Klischee dar, mit dem die ÖsterreicherInnen in Mexiko meistens identifiziert werden, und nicht nur dort, sondern praktisch in jedem spanischsprachigen Land Amerikas. Ein tirolés sieht folgendermaßen aus: Er trägt Lederhosen, wohnt in den Bergen und singt mit sehr hoher Stimme Lieder, die enorme Melodienakrobatik erfordern. Bei diesem Klischee dominieren folgende drei Elemente: die Alpen, die Musik und die ländliche Kleidung, wahrscheinlich auch in dieser Reihenfolge. Auch wenn nur wenige den Ausdruck „Alpenrepublik“ als Synonym für Österreich verwenden, wird die Österreichern mit Tibet oder dem Kilimandscharo (um zwei extreme Gegenbeispiele anzuführen) genauso wenig verbunden, wie mit anderen Gebirgssystemen, die in der spanischen Sprache sehr bekannt sind, z.B. die Anden, die Pyrenäen oder die Rocky Mountains. Das „Österreichische“ wird nicht automatisch mit dem deutschsprachigen Kulturraum in Verbindung gebracht. Es gibt viele Leute, die glauben, „‚österreichisch“ wäre eine eigene Sprache, wobei sie nicht einmal einen Bezug zum Hochdeutsch sehen. Andererseits werden die herausragenden kulturellen Persönlichkeiten Österreichs — mit Ausnahme von Mozart und der Strauß-Dynastie -der deutschen Kultur zugeordnet. Schuberts Lieder, Mahlers Opern und die Werke Kafkas (des in Mexiko meistgelesenen deutschsprachigen Autors nach Hermann Hesse): All dies wird in unserem Kulturkreis jener Gruppe zugeordnet, die unter dem Begriff „Deutsche Kultur“ zusammengefaßt ist. Was Themen wie den Nationalsozialismus oder den Holocaust betrifft, so gibt es widersprüchliche Vorstellungen von Österreich. Ein Wesenszug der österreichischen Gesellschaft allerdings ist landläufig in allen diesen Vorstellungen vertreten, nämlich der „‚autoritäre