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trächtlichen Minderheiten, die in Mexiko gelebt haben, noch nicht artikuliert worden. F.K.: Ja und nein, würde ich sagen. Manche dieser Minderheiten haben an der Revolution teilgenommen. So z.B. die Yaki-Indianer in Sonora, manche Indianergruppen Zentralmexikos, Nachkommen der Azteken, eine ganze Reihe Nahoa sprechender Dörfer nahmen am Aufstand von Emiliano Zapato teil, und es entwickelte sich — wenn auch etwas spät — ebenfalls eine starke Maya-Bewegung in Yucatan. Diese Bewegungen bewirkten zunächst nicht irgendeine sprachliche Autonomie, sondern zunächst eine Landreform, die diesen indianischen Bauern eine weit größere Autonomie ermöglichte. In den 20er Jahren kam es mit Unterstützung des Staates und des Bildungsministeriums zu einem Aufschwung der indigenen Bewegung, die sich vor allem in der Wiederbelebung der alten Kulturen äußerte: Eine Hochschule für Anthropologie und Archäologie wurde gegründet; die Ausgrabungen nahmen zu, in den Wandmalereien wurde die indianische Tradition Mexikos gefördert, und in den indianischen Dörfern gab es eine starke Tendenz zur Alphabetisierung. Was es nicht gab, war die gleichberechtigte Anerkennung der indianischen Sprachen neben der spanischen Sprache. Man lobte zwar die indianische Kultur, aber hatte vielfach die Vorstellung, daß diese Gruppen sich sprachlich und kulturell assimilieren müßten. MdZ: Noch etwas zu den kulturellen Voraussetzungen: Dieser Ehrgeiz einerseits, in der präkolumbianischen Kultur eine nationale Identität zu finden, und der Versuch andererseits, durch Immigranten — nämlich hier vor allem spanisch-republikanische Immigranten — eine neue technische und humanistische Elite heranzubilden, wie hängt diese Kulturpolitik mit der allgemeinen Politik unter Cärdenas zusammen? F.K.: Die Kulturpolitik in bezug auf die spanischen Republikaner beabsichtigte zunächst nicht, gezielt die mexikanische Kultur umzuwandeln. Sie war in erster Linie als humanitäre Hilfe gedacht. Als dann die republikanische geistige Elite kam, hat man alles getan, um sie entsprechend einzugliedern und zu der Ausbildung von Eliten in Mexiko selber beizutragen. Es gab keinen Widerspruch zwischen der indigenen Politik und diesen Spaniern. Es gab in Mexiko, als die Republikaner ankamen, alteingesessene konservative spanische Kaufleute, die sich weitgehend als Nachfolger der Kolonialspanier betrachteten. Viele von ihnen waren Verwalter von Großgrundbesitz gewesen — das waren Kaufleute, die eine weitgehende Verachtung für Mexiko hegten und sehr scheel angesehen wurden. Die republikanischen Spanier hatten eine völlig andere Haltung zu Mexiko. Viele von ihnen begannen, sich für die mexikanische Kultur zu interessieren. Einige Archäologen, Juan Gomaz, Carazco, Armillas, haben sehr bedeutende Arbeiten in bezug auf die Archäologie und Ethnologie Mexikos betrieben. Andere haben Philosophie unterrichtet und dadurch die mexikanische Kultur unge heuer bereichert und selber von Mexiko gelernt. MdZ: Die Gewerkschaftsbewegung hat anläßlich des Novemberpogroms 1938 zu einer Protestkundgebung aufgerufen. Wie kommt die mexikanische Gewerkschaft dazu? F.K.: Zum Teil war das in der antifaschistischen Tradition begründet, in der Antifranco-, Antinazi-Tradition, die die Gewerkschaften in Zusammenhang mit der Spanischen Republik pflegten. Und hinzu kam, daß Franco seinerseits eine starke faschistische Bewegung in Mexiko förderte, die sogenannten Sinarquistas, die stark von der Falange beeinflußt waren, ebenfalls von Nazi-Deutschland. Die Opposition gegen Hitler, gegen die Judenverfolgung, war somit nicht nur ein Ausdruck von Sympathie für eine weit von Mexiko entfernt lebende, verfolgte Volksgruppe, sondern auch eine Opposition gegen den einheimischen Faschismus, der den Antisemitismus als wichtiges ideologisches Fundament betrachtete, obwohl die Juden in Mexiko im Wirtschaftsleben kaum eine Rolle spielten. MdZ: Mexiko war ein Land, wo einerseits Reformen stattgefunden haben, wo aber zugleich die wirtschaftliche Lage während dieser ganzen Periode ziemlich prekär blieb. Kann man für Mexiko wirklich sagen, daß es zu einer rapiden Vermehrung von mehr oder weniger gut oder schlecht bezahlten Tätigkeiten für Intellektuelle oder für akademisch oder irgendwie Gebildete gekommen ist? F.K.: Eher schlecht bezahlte, aber ja. Es wurde eine neue polytechnische Hochschule gegründet. An der Nationaluniversität waren zwar die meisten Professoren unbezahlt — d.h., sie waren das Aquivalent der Privatdozenten hier und mußten eigenes Vermögen haben, um zu lehren, aber Lehrer wurden bezahlt. Lehrer an Lehrerbildungsanstalten und an technischen Hochschulen wurden bezahlt. Es entstand doch ein größerer Regierungsapparat, der sich mit Bildung befaßte. MdZ: Inwiefern kann man sagen, daß die Immigranten oder Exilanten in diese neuen Tätigkeiten hineingewachsen sind? F.K.: Von den spanischen Immigranten kamen viele an die Universitäten, manche an die Casa de Espafia, die von der Regierung gefördert wurde. Sie gaben bezahlten Unterricht fiir Mexikaner. Viele ließen sich als Ärzte in der Provinz oder in der Hauptstadt nieder. Für die spanischen Immigraten gab es viele Betätigungsmöglichkeiten. Für deutschsprachige Immigranten, sofern sie die Sprache lernten, gab es auch Möglichkeiten. Manche von ihnen haben eine bedeutende Rolle im Kulturleben gespielt, eine der hervorragendsten war eine Schweizerin, Gertrude Düby, die nach Chiapas ging und als eine der ersten Forscherinnen mit den Lakandon-Indianern in Kontakt kam, ihre Kultur aufnahm und bis zu ihrem Tod als eine Art Schutzgöttin der Lakandonen galt. Die Lakandonen waren jene Abkömmlinge der Mayas, die niemals zum Christentum übergetreten waren und die noch im Urwald weitab von der spanischen Zivilisation bzw. der mexikanischen Kultur lebten. Ludwig Renn, ein sehr bekannter Schriftsteller, hat sich in Mexiko eine Zeit lang für Archäologie interessiert und hat an der Universität Morelia unterrichtet. Laszlo Radvänyi (Johann Schmidt) der Mann von Anna Seghers, hat an der Unversidad Obrera, der Arbeiteruniversität, unterrichtet. Jene, die nicht Spanisch konnten, haben sich im Rahmen des deutschsprachigen Exils bewegt, und einige ihrer Werke wurden auch ins Spanische übersetzt. Bei meinem Vater war die Sache etwas anders. Er sprach zwar nicht Spanisch, aber hatte einen ziemlich großen Einfluß auf die jüdische Kolonie, weil Jiddisch noch sehr verbreitet war. Er wurde Herausgeber einer wichtigen Zeitung, der ‚Freiheit‘, die zweimal in der Woche erschien, und in der er die Bildungs- und Kulturpolitik der Juden in Mexiko kommentierte. Er und andere haben auch in der für Nichtjuden 29