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Während des Krieges war das Ausmaß dieser Entwicklung nicht zu erkennen. Leo Katz verkehrte freundschaftlich mit dem sowjetischen Botschafter, der selbst einer jüdischen Familie entstammte. Gern diskutierte Konstantin Umanski mit dem gebildeten und kenntnisreichen Österreicher jüdische Themen. Für beide, für alle Juden in Mexiko und für die gesamte demokratische Öffentlichkeit des Landes war es ein Erlebnis, als im August 1943 zwei Repräsentanten des Jüdischen Antifaschistischen Komitees in der UdSSR während ihrer Werbereise für Solidaritätsspenden in den USA und Kanada auf Umanskis Initiative einen Abstecher nach Mexiko machten. Enthusiastisch bejubelte Leo Katz den Präsidenten des Komitees, Solomon Michoels, und den jiddisch schreibenden Lyriker Itzik Feffer: Das Jüdische Kammertheater in Moskau, dessen Direktor Solomon Michoels ist, gehört zu den bedeutendsten Kunststätten der Welt. In Millionen Exemplaren werden die Werke der alten und neuen jüdischen Dichter ... gedruckt. Ankniipfend an die heroischen Traditionen der Makkabäer, der Verteidiger Jerusalems, BarKochbas, kämpfen die Juden der Sowjetunion als Soldaten und Offiziere, als Partisanen und in der illegalen Bewegung der zeitweilig besetzten Gebiete gegen die Nazibarbarei. Die beiden Vertreter des Jüdischen Antifaschistischen Komitees sind nach dem amerikanischen Kontinent gekommen, um in diesen schicksalsschweren Stunden die Verbindung zwischen dem Sowjetjudentum und den Juden dieses Kontinents herzustellen. Wir begrüßen in ihnen die Millionen Juden der Sowjetunion, des Landes der Völkerfreiheit und der nationalen Gleichberechtigung. u Die Begegnung mit Michoels und Feffer war für Leo Katz der erste und letzte Kontakt zum Komitee der russischen Juden. 1948 erfuhr er aus der Presse, Michoels sei in der Nähe des während des Krieges zerstörten Minsker Bahnhofs von einem Lastwagen überfahren worden. Im April 1949 kam die Nachricht von der Schließung des Moskauer Jüdischen Theaters. Am 13. Januar 1953, es war Michoels’ fünfter Todestag, las Katz in Wien die Meldung der „Prawda“ über die Entlarvung einer terroristischen Ärztegruppe in der Sowjetunion. Einer der Ärzte, der jüdische Professor Wowssi habe über „‚den bekannten jüdischen bürgerlichen Nationalisten Michoels die Anweisung ‘zur Beseitigung führender Persönlichkeiten der UdSSR’ erhalten“.'” Nach Stalins Tod entnahm Leo Katz einem Leitartikel der ‚Prawda“, man habe festgestellt, daß ‚‚der Volkskünstler der UdSSR, Michoels, diese ehrenhafte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, verleumdet wurde“ .'3 Verleumdet? Noch immer wurde seine Ermordung verschwiegen. In Mexiko war zwischen Leo Katz und seinem Freund Konstantin Umanski ein Thema auffallend unberührt geblieben. Umanski unternahm nichts, die Differenzen zwischen dem auch in der Botschaft verkehrenden Carlos Contreras und Leo Katz beilegen zu helfen. Heute weiß man, daß dies nicht in seiner Macht lag. Der Schutzengel für Contreras war Lew Tarasow, der Erste Sekretär der Botschaft, der sich bis zu seinem Eintreffen in Mexiko, im Mai 1943, als Diplomat in Kanada und in den USA aufgehalten hatte. Die wahre Identität Lew Tarasows wurde erst 1994 durch seinen einstigen Vorgesetzten preisgegeben.'* Lew Tarasow war der Deckname für Lew Wasilewskij. Als Hauptmann der Staatssicherheit hielt er sich während des Bürgerkrieges in Spanien auf. Ende April 1939 wurde er als neuer Residenturchef des NKWD für Frankreich berufen. Offiziell fungierte er als sowjetischer Generalkonsul in Paris. Den für das Mordkomplott gegen Trotzki in Mexiko eingesetzen NKWD-Offizier Leonod Eitingon stattete Lew Wasilewskij in Paris mit falschen Pässen aus. Die Funksprüche der Sowjetagenten in Mexiko gingen über ein sowjetisches Schiff und über Wasilewskij nach Moskau. Dieser frühere NKWD-Stützpunktleiter in Paris führte ab Frühjahr 1943 das sowjetische Agentennetz, das von Mexiko-Stadt aus operierte. LEO KATZ Totenjaeger W EDITORIAL “EL LIBR® LIBRE’? - MEXICO Eine der Begegnungsstätten mit den sowjetischen Diplomaten war die von Leo Katz initiierte Liga Israelita pro Ayuda a la Union Sovietica (LIPAUS), eine jiidische Organisation zur Hilfe fiir die Sowjetunion. Am 17. Oktober 1944 sprachen, wie in der „Demokratischen Post“ zu lesen, anläßlich eines Abends der Liga im Teatro de las Artes „Lew Tarasow, Erster Sekretär der Sowjetbotschaft in Mexiko, und Dr. Leo Katz, Verfasser des Romans ‘Totenjäger’ über ‘Ilja Ehrenburg als Schriftsteller, Jude und Kämpfer“ .5 Am 21. Januar 1945 weihten Botschafter Umanski und Leo Katz ein neues Versammlungslokal der LIPAUS ein. Anwesend waren jüdische Gäste aus New York, Vertreter der Organizaciön Sionista Unida en MExico, der sozialistisch-zionistischen Arbeiterpartei Poale Zion und Moises Glitkowski, der Sekretär des Mexiko-Büros des Jüdischen Weltkongresses. Vier Tage später wollte Umanski mit Begleitung, darunter der neue Erste Sekretär der Botschaft — Lew Tarasow hatte Mexiko kurz zuvor verlassen — , mit dem Flugzeug nach Costa Rica fliegen. Als die Maschine gestartet war und vom Boden abhob, explodierte sie und wurde in tausend Stücke zerrissen. Bis auf eine Frau waren alle Insassen des Flugzeuges auf der Stelle tot. Wer waren die Urheber des Attentats? Sie wurden nie ermittelt. Kam Leo Katz in den Sinn, daß dies ein Omen für kommende Zeiten war? Als Katz im September 1949 nach Wien heimkehrte, war der Kalte Krieg bereits in vollem Gange, doch für ihn schien diekommunistische Welt weitgehend in Ordnung zu sein. Im November 1949 fuhr er zu Verlagsgesprächen nach Berlin. Er hatte mehrere Buchprojekte im Visier, die er für den gesamten’deutschsprachigen Markt als geeignet erachtete. Ihm kam wegen der Erstattung aller Reisekosten entgegen, offiziell zum II. Kongreß des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deytschlands eingeladen zu sein. Alexander Abusch, der Vizepräsident der Kulturorganisation, hatte dies so arrangiert. Bei seiner Ankunft in Berlin begrüßte die SED-Zeitung ‚Neues. Deutschland“ ausdriicklich ,,Dr. Leo. Katz, der erst vor einem Monat aus der Emigration nach Wien zurückkehrte und seine österreichische Heimat beim Kongreß des Kulturbundes vertritt‘! Die meisten seiner einstigen deutschen Mitemigranten in Mexiko waren in Ostdeutschland in hohe Ämter berufen worden. Paul Merker gehörte dem Zentralkomitee und dem Politbüro der SED an und war kürzlich, bei der Gründung der DDR, außerdem Staatssekretär im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft geworden. Den Juristen Dr. Leo Zuckermann, mit dem Leo Katz in Mexiko am engsten verbunden war, hatte die Bildung des zweiten deutschen Staates zum Staatssekretär und Chef der Präsidialkanzlei von Präsident Wilhelm Pieck werden lassen. Ludwig Renn, in Mexiko Präsident der Bewegung Freies Deutschland, leitete den Kulturbund in Sachsen und war Professor an dem eigens für ihn geschaffenen Kulturwissenschaftlichen Institut der Technischen Hochschule Dresden. Rudolf Feistmann, der Anfang 1946 nach der Abreise von Andre Simone aus Mexiko Chefredakteur der ‚Tribuna Israelita“ geworden war, gehörte jetzt zum Kollegium des ,, Neuen Deutschland“ und leitete das Ressort Außenpolitik. Als Leo Katz in Berlin mit dem Kinderbuchverlag verhandelte, erfuhr er, daß Walter Janka, der 1944 bei El Libro Libre in Mexiko Katz’ ersten Roman herausgebracht hatte, demnächst Geschäftsführer des Aufbau-Verlages werden würde. Die zweite Berlinreise von Leo Katz in der Nachkriegszeit stand unter einem ganz anderen Stern. Der aııs Moskau kommende Verdacht, die in Mexiko gewesenen deutschen Kommunisten seien dort höchstwahrscheinlich zu Agenten des amerikanischen Imperialismus geworden, zeigte Folgen. Als Leo Katz im Sommer 1951 in der DDR-Hauptstadt weilte, erreichte er Abusch nur am Telefon. Eine persönliche Begegnung kam nicht mehr zustande. Der vom Vizepräsidenten zu einem der Sekretäre des Kulturbundes degradierte Abusch hatte beider Zentralen Parteikontrollkommission der 35