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Anton Pelinka Als fast alle Staaten ihre Tore gegenüber den von Faschismus und Nationalsozialismus Vertriebenen geschlossen hatten, war Mexiko die große Ausnahme. Das republikanische, laizistische, sozialistische, revolutionäre Mexiko wurde ein Asyl für die aus Europa Flüchtenden. Es kamen die Kämpfer für die Spanische Republik, es kamen die Opfer von Totalitarismus und Rassenwahn des „Dritten Reiches“. Und es kam auch einer, der vor den Häschern des Stalinismus floh — Leo Trotzki. Unter denen, die aus Österreich kamen, war Stephen S. Kalmar. Geboren 1910 als Samuel Kohn in Sisof, Ungarn, kam er mit seiner Familie 1914 nach Wien. Wie viele seiner Generation und seines Hintergrundes engagierte sich der junge Kalmar im Wien der Ersten Republik in der politischen Linken — trotz seines eher „bürgerlichen“ Hintergrunds. Der Antisemitismus der Rechten ließ einem politisch interessierten jungen Juden keine andere Wahl. Doch während der Austrofaschismus dem jungen Sozialisten die Freiheit zur politischen Betätigung nahm, bedrohte der Nationalsozialismus unmittelbar sein Leben. Im ‚‚Ständestaat“ hatte Kalmar an der Hochschule für Welthandel noch promovieren können. Doch über die Intensität des nationalsozialistischen Terrors hatte er keine Illusionen. Mit seiner Frau Edith entkam er rechtzeitig — über Frankreich führte ihn der Weg nach Schweden, das eines der „klassischen“ Exilländer der Sozialdemokratie wurde. Bruno Kreisky und Josef Hindels waren unter den Österreichern und Österreicherinnen, die in Schweden überleben konnten. Trotz der Sicherheit Schwedens zog es Kalmar nach Mexiko. 1940 erhielten er und seine Frau die Einreiseerlaubnis in das Land, dessen Regierung unter Präsident Läzaro Cärdenas im Rahmen des Völkerbundes offiziell gegen die Besetzung Österreichs — also gegen den ,,Anschluß“ — protestiert hatte. Was war es, das einen jungen Sozialisten aus dem späteren sozialdemokratischen Modelland Schweden in das revolutionäre Mexiko zog? Ein Aspekt war der schwedische Pragmatismus, der den ,,linkeren“ unter den österreichischen Exilanten nicht behagte. Kalmar schreibt über seine Gespräche mit Bruno Kreisky und über die — freundschaftlichen — Differenzen über die Notwendigkeit eines „‚Konsequenteren“ Sozialismus. (Kalmar 1987, 126 £.) Doch Kalmar war nicht nur ein „linker“ Austromarxist, er war auch dezidiert antistalinistisch. Die Sowjetunion war es daher nicht, die ihn anzog. Der Hitler-Stalin-Pakt tat ein Übriges, um die Sowjetunion als Bedrohung zu sehen. Und daß Schweden ein sicheres Exil sein sollte, das konnte Ende 1939 noch nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden. Mexiko hingegen schien Sozialismus und Freiheit zu verbinden. Mexiko war der internationalen Solidarität verpflichtet — und nicht primär dem sowjetischen Staatsinteresse. Europa schien Hitler ausgeliefert— und Kalmar bemühte sich, nach ,, Ubersee“ zu kommen. Es war die Liberalität der mexikanischen Migrationspolitik, die den Ausschlag für Mexiko gab. Die USA waren noch neutral und gegenüber Flüchtlingen restriktiv. Argentinien, Australien und andere Staaten zögerten. Mexiko war das erste Land, das für die beiden Kalmars ein Visum auszustellen bereit war. Und so fuhren Stephen und Edith Kalmar 1940 in das Land, das von sich behauptete, noch vor Rußland eine erfolgreiche sozialistische Revolution erlebt zu haben. Der erste Mexikaner, dem Kalmar im Februar 1940 an der Küste Yucatans begegnete, begrüßte ihn mit den Worten: „Von wanem kimmt Ihr?“ Er war ein jüdischer Einwanderer aus Polen, der schon 1920 Mexiko erreicht hatte und nun die Flüchtlinge im Namen Mexikos in jiddischer Sprache willkommen hieß. (Kalmar 1987, 156) Das Exilland Mexiko hätte keine bessere Visitenkarte haben können. Kalmar fand dort rasch Zugang zum jüdischen Milieu. Die Kosten für die Fahrt nach Mexiko waren den Kalmars von einer jüdischen Hilfsorganisation bezahlt worden. Dort trafen sie auch den Gynäkologen Ernst Frenk, den Präsidenten der Organisation ,,Menorah“, die deutschsprachige Juden ins Leben gerufen hatten. Frenk wurde nicht nur ein Freund, er war auch der Arzt, der bei der Geburt von Kalmars Kindern half. Kalmars Erinnerungen an das mexikanische Exil zerstören allzu heroisch-romantische Erwartungen. Denn dieses Exil wartiefzerklüftet. Allein die Anwesenheit Trotzkis sorgte dafür, daß sich das linke Exil gespalten hatte — in solche, die die tödliche Verfolgung Trotzkis durch Stalin billigten, und solche, die sie scharf ablehnten. Zu letzteren gehörten auch Otto und Alice Rühle, mit denen Kalmar bald in freundschaftlichen Kontakt kam. Otto Rühle hatte 1914 im deutschen Reichstag — gemeinsam mit Karl Liebknecht — entgegen der Linie seiner Partei, der SPD, gegen die Kriegskredite und damit gegen die Kriegspolitik des Deutschen Reiches gestimmt. 1919 zählte er zu den Gründern der KPD. Doch bald brach er mit Lenin, der ihn als Vertreter der ‚‚Kinderkrankheit des Linksradikalismus‘“ scharf kritisierte. Die Rühles waren zentrale Persönlichkeiten des linken antistalinistischen Exils in Mexiko -und eben deshalb vom kommunistischen Exil scharf bekämpft. Kalmar schreibt dieser Gegnerschaft der Stalinisten des Exils und vor allem der KP Mexikos die Schuld daran zu, daß Otto und Alice Rühle ihre ursprünglich wichtigen beruflichen Positionen, die ihnen die Regierung Cärdenas verschafft hatte, verloren hatten. Unabhängige Marxisten waren den Kommunisten ein besonderes Ärgernis. (Kalmar 1987, 175) Die Rühles lebten, als Kalmar sie kennenlernte, mehr schlecht als recht von gelegentlichen Veröffentlichungen, von Übersetzungen Alices oder vom Verkauf von Bildern, die Otto malte. Stalinisten beherrschten auch die meisten der offiziell ‚„‚überparteilichen“ Emigrantenorganisationen wie ,,Alemafia Libre“. Kalmar schloß sich dieser Gruppe nicht an. Er versuchte, andere Kontakte zu nützen, um verfolgte Österreicherinnen und Österreichern nach Mexiko zu holen. Dabei nützte er den Umstand, daß einige mexikanische Regierungsvertreter eine sehr hohe Meinung vom Austromarxismus hatten. Als er sich fiir die Erteilung von Visas einsetzte, die eine Gruppe Verfolgter nach Mexiko bringen sollte, ,,tarnte er sich erfolgreich als prominenter Kollege Otto Bauers — beeindruckt entschied der Gouverneur von Puebla daraufhin, die Visas auszustellen. Unter denen, die so ein mexikanisches Visum erhilten, war auch Helene Bauer, die Witwe Otto Bauers. Doch diese kam dann doch nicht nach Mexiko, da Präsident Roosevelt ihr ein US-Visum erteilt hatte. (Kalmar 1987, 179181) Aber auch bei Kalmars Einsatz für die in Europa Bedrohten wirkte sich der heftige Konflikt innerhalb des Exils negativ aus. Als Kalmar vom scheidenden Cärdenas nochmals eine Liste mit Visaanträgen gebilligt erhielt, sorgte eine kommunistische Gruppe innerhalb der „Asociaciön Pro-Cultura Alemafa“ dafür, daß der Name von Kalmars Bruder nachträglich von dieser Liste gestrichen wurde. Das hätte für Jules Kalmar, der in Frankreich von den nationalsozialistischen Mordkommandos bedroht war und schließlich doch überlebte, den Tod bedeuten können. (Kalmar 1987, 185) Kalmar, der Austromarxist, wurde in Mexiko zum Unternehmer. Am Beginn arbeitete er als Redakteur des ersten mexikanisachen Kreuzworträtsels „Tic-Tac“. Doch dann wurde er zum erfolgreichen Export-Import-Kaufmann. (Kalmar 1987, 187, 205f.) Die Freundschaft mit Otto und Alice Rühle bewirkte, daß er den literarischen Nachlaß Alices nach dem Tod der beiden, 1943, verwaltete. Alice Rühle-Gerstel hinterließ psychologische Schriften, einen Roman (,‚Der Umbruch — oder Hanna und die Freiheit“) und politische Aufzeichnungen („Kein Gedicht für Trotzki - meine Gespräche mit Trotzki“). Nach der Niederlage der Achsenmächte machte Kalmar Bilanz — über seine Identität, über seine Bindungen. Rückblickend reflektierte er das Schicksal des gesamten mexikanischen Exils: ‚Viele von uns hörten auf, Flüchtlinge zu sein. Sie wurden zu Immigranten, die Mexiko als ihre Zukunft akzeptierten. Andere von uns saßen da und warteten darauf, bis Hitler besiegt war und sie wiederum nachhause zurückkehren konnten. Ich selbst paßte in keine dieser beiden Kategorien.“ (Kalmar 1987, 193) Kalmars Bild von Mexiko, wie er es Jahrzehnte später zeichnete, bestätigt diese Mischung aus Dankbarkeit und Distanz. Kalmar war vor allem mit den Menschen des europäischen Exils 37