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Inzwischen habe ich erfahren, daß er immer noch im Dienste Rußlands steht was ich von einem intelligenten und nicht ganz verlumpten Menschen eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hatte — und damit erklärt sich natürlich, warum er uns schneidet. Ich hätte ihn gerne gesehen, hauptsächlich, um was über gemeinsame Bekannte zu erfahren ... Als Otto Rühle am 24. Juni 1943 einem Herzversagen erlag, folgte einige Stunden später Alice ihm durch Freitod. Sie hatte sich an Otto, an ihren Lebensbaum, gefesselt. Ihre oft erwähnte Todessehnsucht hatte ihre Ursache in Erlebtem - sie hatte zu einer Generation gehört, die an der Relativität der Werte starb. Das dramatische Ableben des Ehepaares Rühle erregte die mexikanische Öffentlichkeit. Im Gedächtnis der Bürger Mexikos waren noch die unzähligen Attentatsversuche gegen Oppositionelle. So gesehen war es kein Wunder, daß im ersten Moment, als die Nachricht über Rühles Ableben die Runde durch Mexico D.F. machte, die meisten sofort an fremde Gewalt gegen das Ehepaar dachten. Ausführliche Berichterstattung über das Ableben des Ehepaares Alice und Otto Rühle brachten nicht nur alle wichtigen Tages- und Wochenzeitungen Mexikos, sondern auch in den USA wurde die Todesanzeige veröffentlicht. Konsequent still zu den traurigen Ereignissen blieb nur das ‚Freie Deutschland“, das gewöhnlich sehr ausführlich über die deutschsprachige Emigration, über den eigenen Kreis berichtete, und ‚‚El Checoslovako en Mexico“, der der Linie des ‚Freien Deutschland“ standhaft folgte. Das Unmögliche wurde möglich. Was selbst Hitler nicht gelungen war, gelang den Emigranten im kleinem Krieg gegeneinander. Stephen S. Kalmar, ein Flüchtling aus Wien, der die Kriegsjahre in Mexico D.F. verbracht hatte, schildert die damalige politische Lage so: Heute wird es sehr unterschätzt, was es in 1939, 40, 41 bedeutete, Anti-Stalinist zu sein. Heute wird die wirkliche Situation verschleiert, indem man sozialistische, kommunistische, stalinistische, trotzkistische EinstellungenbloßalstheoretischeSchattierungen linker Leute ansieht. Heute ist es schon fast vergessen, daß wo immer Stalinisten Einfluß hatten, es eine Frage von Leben und Tod war, Anti-Stalinist zu sein. Natürlich in Rußland, aber ebenso in allen Ländern, wo Stalin Einfluß hatte, z.B. Spanien, aber durch seine Agenten auch in Frankreich, (auch in der Schweiz), auch in Mexiko. Was am traurigsten ist, sogar in den Konzentrationslagern, wo die Barackenleiter überall alte stalinistische Häftlinge waren, und sie halfen anderen stalinistischen Häftlingen zu leichterer Arbeit, mehr ärztlicher Pflege, mehr Kleidung. Anti-Stalinisten in den Lagern waren verfemt und hatten es besonders schwer zu iiberleben. In Mexiko, wo die Gewerkschaften unter stalinistischer Führung standen, verloren dadurch sowohl Otto, wie auch Alice ihre 40 Regierungsanstellungen, als bekannt wurde, daß sie Anti-Stalinisten waren. Andere, wie Marcel Pivert, Victor Serge, bekannte französische unabhängige linke Sozialisten, wurden bei der Polizei als Nazi Agenten denunziert und mußten sich verstecken. Sozialisten wurden in Spanien an der Front von den Kommunisten verhaftet und in Gefängnisse gesteckt. Kurt Landau von Wien (ein Bruder meines Freundes Alfred Landau) wurde in Spanien verhaftet und erschossen. Auf der Spurensuche in Prag und Ciudad de Mexico — wer war Alice Rühle-Gerstel? Als ich die zierliche Lenka Reinerovä, Jahrgang 1916, Publizistin und Schriftstellerin, die als wichtige Zeitzeugin des mexikanischen Exils gilt, in ihrer Heimatstadt Prag nach den Rühles befragte, kannte sie sie nicht. Ich wußte, daß Lenka Reinerovä sich bereits in ihrer Jugend zum Journalismus hingezogen fühlte. 1934, als 18jährige, trat sie der tschechoslowakischen kommunistischen Partei bei; ab März 1939 befand sie sich auf der Flucht durch verschiedene Länder; nach dem Fall von Paris war sie sechs Monate in Einzelhaft im Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette, danach in Rieucros interniert. Nach Mexiko gelangte sie erst Ende 1941. Und dort traf sie manchen Bekannten und Schriftsteller aus der Vorkriegszeit wieder. Zwischen 1936 und 1938 war sie verantwortliche Redakteurin (Grete Reiner, ab 21. Juni 1936 Helene Reiner) der „‚Deutschen VolksZeitung“. Hier publizierten Autoren wie Karin Michaelis, F. C. Weiskopf, Bela Kun über Theodor Balk bis E.E. Kisch. Helene Reiner war 1937 bis 1938 Mitarbeiterin der „AIZArbeiter-Illustrierte-Zeitung“, wo u.a. E.E. Kisch aus Australien und Gustav Regler aus Spanien berichteten. So bohrte ich weiter, es schien mir unmöglich, daß sie, die junge Gefährtin von Egon Erwin Kisch und von André Simone (Otto Katz), Gattin von Theodor Balk die Riihles nicht kannte. Ja, sie war um zweiundzwanzig Jahre jiinger als Alice und zweiundvierzig Jahre jiinger als Otto, aber auch ihr Mann, Theodor Balk, war um 16 Jahre älter, so hat sich - für mich — der Kreis von Zeitgenossen geschlossen. Ich fragte nach Gustav Reglers Streit und Bruch mit E.E. Kisch. Es wurde still. Nach einer guten Weile erinnerte sich Lenka Reinerovä, Rühle noch in Prag begegnet zu sein. Ihr Professor, Dr. Oscar Kohn-Kosta, hatte Otto zu einem Vortrag ins Gymnasium eingeladen... Und plötzlich formuliert sie präzise, beschreibt Ottos Rednerkunst, Charme-und vergegenwärt sich die Begeisterung der Zuhörer. „Und Alice?“ „Nein.“ Und nach einer Weile -, doch... ‚Ja, die kam auch mit... ihm. Sie hat aber nicht öffentlich geredet.“ „Und-in Mexiko? Sie waren doch einander alle aus Prag bekannt, befreundet, oder waren über Prag weiter geflohen. Es ist unmöglich, sich gegenseitig nicht begegnet zu sein.“ „Nein.“ Nach Angaben des mexikanischen Historikers und Zeitzeugen Räul Arreola Cortes lebten in Mexiko 1940 cirka 150 Menschen aus der Tschechoslowakei, 1942 waren es ungefähr 350. Unser Gespräch fand im November 1996 statt. Einige Monate später lernte ich in Mexiko Marianne Frenk-Westheim kennen, der ich mein Gespräch mit Frau Lenka Reinerovä schilderte. Marianne Frenk-Westheim sah es mit ihrer fast hundert Jahre alten Menschenkenntnis milder: „Ich habe sie hier in Mexico City vor einigen Jahren wieder getroffen. Sie war sehr, sehr nett, aber zur Zeit des Exils war sie eine hundertprozentige Stalinistin.“ Durch Mariannes Vermittlung lernte ich eine deutsche Schriftstellerin kennen. Auch sie war auf der Spur einst exilierter Schriftstellerinnen. Über welche will sie schreiben? Sie nannte u. a. Marianne Frenk-Westheim, Lenka Reinerovä, Anna Rädvanyi-Seghers, Alice Rühle-Gerstel... Ihre Auswahl kam mir persönlich sehr unausgeglichen vor: menschlich, politisch, schöpferisch, besonders in der Zeit des Exils in Mexiko. Aber sie betonte die noch nicht angesprochenen sozial-psychologischen Aspekte der Frauenforschung. „Werden Sie sie auch deren politischen Habitus anfechten?“ „Nein, ich will nur ihre Biographie erzählen.“ Ich bemerkte: ‚Dann fragen Sie Frau Reinerovä, ob sie ihre Landsmännin Alice RühleGerstel gekannt habe, ob sie ihr je begegnet sei. So haben sie gleich die Pointe einer Erzählung und die Aufmachung des nächsten Frauenporträts.“ Ohne Überlegung, in einem Atemzug antwortete sie mir. „Das habe ich gemacht, sie sagte mir: ,,Sie war auch aus Prag.“ Stellungnahme von Lenka Reinerova Die Redaktion MdZ hat Frau Lenka Reinerovä diese Glosse von Marta Markovä vorgelegt und sie um eine Stellungnahme gebeten: Frau Marta Pelinka-Markovä hat einen ganzen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen bei mir verbracht. Was sie dann aus unserem freundschaftlichen Gespräch gemacht hat, ist — abgesehen von etlichen faktischen Unrichtigkeiten und Fehleinschätzungen, auf die ich zum Teil bereits in unserer Korrespondenz hingewiesen habe — Sache ihrer Ethik und Professionalität, keineswegs eines Kommentars meinerseits. Lenka Reinerova