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Alice Rühle-Gerstel Selbstmord eines Emigranten Wo rett ich mich hin in der Welt? Ich bin inmitten verloren Verschlossen mit vielen Toren Von allen Seiten umstellt. Die Brücke hinter mir brach Und vor mir sind nur die Wände Wohin ich komme, ist Ende Bin ohne Schuld in Schmach. Ich habe kein Haus und kein Land Ich habe keine Papiere Und wenn ich mich wo verliere Dann hat mich keiner gekannt. Ich habe keine Frau Und auch kein Bett ihr zu bieten Es will mir auch keiner vermieten Und die Nacht im Stadtpark ist rauh. Ich habe kein Recht auf Brot Ich darf meine Hände nicht rühren Ich darf keine Kläge führen Ich habe kein Recht auf Not. Ich bin noch gar nicht so alt Und bin doch schon überzählig Die Frommen werden selig Ich werde nur langsam kalt Im sechsten Stock, der Balkon... ? Hier kann mich keiner vertreiben! (Wer wird’s meiner Mutter schreiben?) Zu spät... ich komme schon. Aus: Alice Rühle-Gerstel: Ausgewählte Gedichte aus dem Nachlaß. Herausgegeben und mit einer biographischen Skizze von Marta Markovä. Innsbruck: Skarabäus in der Edition Löwenzahn 1998. Der Gedichtband vereinigt persönliche Iyrische Aussagen wie „An Dich“ (1916) oder „Sommertag“ (1935) mit einer Reihe von sozialkritischen Gedichten, die sich mit der Realität der 30er Jahre auseinandersetzen wie „Litanei vom Untergang“, ‚Selbstmord eines Emigranten“ und „Wirtschaft 1934“. Später, in Mexiko, bemühte sie sich vergeblich um die Übersetzung ihrer allesamt deutsch geschriebenen Gedichte ins Spanische und Französische. In schlecht überlieferten handschriftlichen Texten sind Alices zahlreiche Versuche, sich in der Sprache des Asyllandes auszudrücken, nachvollziehbar. Der Gedichtband ,,Verlassene Erde“ ist gleichzeitig als Eréffnung eines Buchprojektes, das das Gesamtwerk von Alice RiihleGerstel umfassen soll, gedacht. Als nächstes sind die Neuedition ihres Exilromans ‚Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“ und eine Biographie geplant. Der Gedichtband ‚Verlassene Erde“ wird am 13. März 1998 im Literaturhaus (Wien) Renata von Hanffstengel im 20. Jahrhundert In den meisten historischen oder literarischen Studien finden sich Verallgemeinerungen wie die Juden, die jüdische Gemeinde in diesem oder jenem Land. Die Realität ist weit differenzierter, und eine erste Bestandsaufnahme der Situationen in Mexiko zeigt eine große Auswahl von Menschen jüdischen Glaubens verschiedener ethnischer Herkunft, welche diesen auf unterschiedliche Art praktizieren, bzw. sich von ihm distanziert haben. Diese Situation trafen die Exilanten aus deutschsprachigen Ländern an, als sie zwischen 1933 und 1942 nach Mexiko gelangten. Über die ethnische und linguistische Zusammensetzung der Gruppen jüdischen Glaubens in Mexiko gibtes einige Statistiken. Vor 1821, dem Jahr der Unabhängigkeit von Spanien, war die jüdische Einwanderung nach Neu-Spanien verboten, das heißt, sie war eigentlich unmöglich, da es nach der Vertreibung der Juden aus Spanien oder ihrer erzwungenen Taufe im Jahre 1492 offiziell dort keine mehr gab und Nicht-Spaniern die Einreise nach Neu-Spanien verwehrt war. Dennoch kamen während der drei Jahrhunderte Kolonialzeit dank der raffinierten Möglichkeiten, die damals schon die Mittel der Korruption offerierten, etliche Juden über Portugal ins Land, und zahlreiche Konvertiten, genauer gesagt, Krypto-Juden, direkt aus Spanien. Diese praktizierten weiterhin ihren Glauben, weswegen die Inquisition einige Hunderte von ihnen verurteilte; viele andere nahmen daraufhin von der Ausübung ihres Glaubens Abstand.' Maximilian von Habsburg brachte 1864 einige jüdische Familien in sein Mexikanisches Imperium und erließ wenige Monate nach seiner Ankunft ein Toleranzedikt. Im allgemeinen jedoch waren die turbulenten Jahre des 19. Jahrhunderts wenig attraktiv für die Einwanderung, so daß diese erst während der Gründerzeit wieder einsetzte. Inzwischen hatten sich die meisten der in früheren Jahrhunderten nach Mexiko gelangten Juden in das katholische Mexiko integriert. Leön Sourasky gibt in einer Studie? einige Daten der mexikanischen Volkszählungen wieder, die alle zehn Jahre durchgeführt werden: Im Jahre 1900 gab es insgesamt 134 Menschen jüdischen Glaubens in Mexiko. 1910 waren es 254, für 1921 fehlen die Daten, 1930 waren es 9.072 und 1940 14.067. Für Ende der vierziger Jahre gibt Judith Bokser 24.000 an.” Die Einwanderung von Europäern wurde unter dem Diktator Porfirio Diaz gefördert, der über dreißig Jahre bis zum Ausbruch der Revolution 1910 regierte. In den zwanziger Jahren wurde die europäische Einwanderung und speziell die der jüdischen Menschen gefördert, um das Land nach der Revolution in die moderne Welt der Industrie, des Handels und des Bankwesens zu führen. So kamen zwischen 1920 und 1929 1.496 jüdische Einwanderer aus Polen, 330 aus Litauen, 1.226 aus Rußland, 74 aus Ungarn, 78 aus Deutschland, 21 aus Österreich-Ungarn, 20 aus der Tschechoslowakei, 21 aus Frankreich, drei aus der Schweiz und einer aus Rumänien. Diese Länder umfaßten die AschkenazimGruppe, die den deutschen Einwanderern sprachlich am nächsten stand.* Hinzu kam eine ähnliche Anzahl von sephardischen Juden aus levantinischen Ländern. Autoren der Studien über die jüdische Einwanderung in Mexiko scheinen ein konfliktives Verhältnis zu den jüdischen Einwanderern zu haben, die vom Faschismus verfolgt aus Deutschland und Österreich nach Mexiko gelangten. Sie räumen ihnen geringen Platz ein, umgehen sie, ja nennen sie ungern mit Namen. Die Erklärung dafür kann nicht nur in der relativ kleinen Anzahl der deutschsprachigen Juden gesucht werden, die während des Faschismus nach Mexiko kamen: Ihre Anzahl wird auf maximal 2.250 geschätzt.” Unter ihnen befanden sich namhafte Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller, von denen einige an bedeutenden Zeitschriften mitarbeiteten, z.T. sogar als Herausgeber, wie Otto Katz alias André Simone beim ersten Jahrgang der Tribuna Israelita. Zwei Beispiele sollen auf dieses konfliktive Verhältnis hinweisen. Das erste ist das Vorwort des umfassenden Bildbandes aus dem Jahre 1992 Imägenes de un encuentro.® Judit Bokser, die für diesen Sammelband verantwortlich zeichnet, erwähnt einige der Schwierigkeiten der sechs Historikerinnen bei der Erstellung des Buches hinsichtlich der verschiedenen Sprachen, aus denen die zu konsultierenden Dokumente übersetzt werden mußten: „Jiddisch, Hebräisch, Arabisch, Englisch und Spanisch“, und die Historikerin schließt die Aufzählung mit der Feststellung: ‚‚Die Sprache, weit davon entfernt, ein einfaches Ausdrucksmittel zu sein, [...] war ein Hinweis auf die Loyalitäten und Verbindungen, die den Rahmen zu lebenswichtigen Situationen bildeten.“” Die deutsche Sprache wird im Vorwort ausgeklammert, obwohl u.a. eine Seite der auf Deutsch geschriebenen Satzungen des Vereins der deutschsprachigen Juden in Mexiko, der ,,Menorah“, abgebildet wird®, ebenso wie der Paß von Marie Kafka aus Wien und das Fragment eines Briefes an sie von ihren verschleppten Verwandten.” Kurios ist zusätzlich, daß die Erwähnung der ,,Menorah“ denselben Platz einnimmt wie die viel kleinere Vereinigung 41