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Frage bestimmte die Ausübung eines Berufes und den Grad der Suche nach Verwurzelung im Aufnahmeland. Um zu überleben, nahmen insbesondere die Frauen der politisch Aktiven Gelegenheitsarbeiten an, denn die individuell verschiedene Unterstützung durch US-amerikanische und jüdische Organisationen reichte nicht für den Lebensunterhalt. Letztendlich etablierten sich nur sehr wenige Familien mit der Absicht, im Lande zu bleiben. Und dies bedeutete einen weiteren Unterschied zu den in früheren Jahren Eingewanderten: Diese waren vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen gekommen und mit dem Vorsatz, nicht in ihre Ursprungsländer zurückzukehren. So integrierten sie sich in das Handels-, Bankund Industriewesen Mexikos. Die meisten von ihnen waren dabei erfolgreich. Die zweite Generation folgte den Eltern in diesen Berufen nach oder studierte in Mexiko und/oder im Ausland und bildet heute ein bedeutendes Segment der Wissenschaftler und Künstler Mexikos. Diejenigen der deutschsprachigen Exilanten, die stets den Blick nach Europa richteten, hatten schon aufgrund ihrer geplanten Rückkehr kein Interesse daran, in Mexiko Wurzeln zu schlagen, nahmen kaum sozialen Kontakt auf, bemühten sich wenig um das Erlernen der spanischen Sprache und bewegten sich in einer Art von Enklave. Auch aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, daß die heutige Geschichtsschreibung der jüdischen ,,Gemeinde‘ sie kaum in ihre Chroniken einbezieht. Offensichtlich fühlten sie sich nicht als Teil eines jüdischen Volkes, das heute viele Historiker auch rückwirkend zu etablieren suchen. Bedingt durch die oben erwähnten Umstände erhebt sich hier die Frage nach der Identitätsbildung der zweiten und dritten Generation der Eingewanderten, auf die in diesem Rahmen nicht eingegangen werden kann. Für die erste Generation ist sie bereits verschiedentlich untersucht worden, auch hinsichtlich des bleibenden Einflusses des Exilaufenthaltes in Mexiko für die Zurückgekehrten. Hinzuweisen wäre z.B. auf Essays von Inge Diersen und Fritz Pohle oder meine Studie über Bodo Uhse!®. Für die in Mexiko Verbliebenen ist diese Problematik, bedingt durch ihr hohes Alter, weniger akut. Existentiell ist ihnen die Frage, in welches Altersheim sie eintreten können unter den sehr wenigen, die es überhaupt in Mexiko gibt. Je fortgeschrittener ihr Alter, um so dringender der Wunsch, in deutscher Sprache betreut und unterhalten — und mit einstmals heimischer Kost ernährt zu werden. So gibt es heute in Cuernavaca, etwa 35 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt, ein jiidisches Altersheim, in dem allerdings vorwiegend jiddisch gesprochen wird. Jedoch in ein deutsches Altersheim zu gehen, wäre auch heute noch eine sehr heikle Entscheidung. Der Nachkommen der deutschsprachigen Exilanten sind heute integraler Bestandteil der mexikanischen Gesellschaft. Jedoch sind wenige von ihnen Mitglieder der sehr aktiven und wohlhabenden jüdischen Vereinigungen. Der Grund dafür ist der hohe Grad der Assimiliation ihrer Eltern in ihren Herkunftsländern. Sie fühlen sich nicht zur Orthodoxie oder auch nur Praktizierung der Religion hingezogen. Mangels der Möglichkeit einer jüdischen Identitätsfindung in Mexiko besannen sich etliche der deutschsprachigen jüdischen Familien umso mehr auf die liberale Tradition ihrer Vorfahren. Auch der Zionismus konnte unter ihnen nur wenige aktive Anhänger finden. Aus dem gehobenen Mittelstand in Europa stammend, konnten sie sich ihre Zukunft oder die ihrer Kinder nicht in einem Wüstenland vorstellen. Tatsächlich hielten auch praktische Gründe wie ein gewisser Wohlstand in Mexiko, der Dienstboten einschließt, die zweite Generation davon ab, eine neue Heimat in Israel zu suchen. Es erscheint jedoch naheliegend, daß etliche dieser mexikanischen Familien den Staat Israel durch großzügige Spenden unterstützen, es jedoch vorziehen, dort Tourist und nicht Siedler zu sein. Erwähnung soll noch die von den deutschsprachigen jüdischen Exilanten gegründete Organisation „‚Menorah“ finden. Fritz Pohle nennt in seiner Studie Das Mexikanische Exil genaue Daten über Entstehung und Funktion dieser Organisation, ebenso über den politischen Hintergrund ihrer Gründung. Sie umfaßte 1943 immerhin 386 Mitglieder, hatte auch eine Jugendgruppe und veranstaltete kulturelle Abende, die der Pflege der jüdischen Traditionen gewidmet waren. Die bereits bestehenden jüdischen Gruppen hatten keinerlei deutschsprachiges Programm. Die „Menorah“, später „Hatikwa-Menorah“, bildete eine der Organisationen, die unter dem Dachverband des Zentralkomitees der jüdischen Vereinigungen in Mexiko stand. Sie war jedoch so weit entfernt davon, daß sie nach Stillegung der Funktion ihre Dokumente keiner mexikanischen jüdischen Institution übergab, sondern 1985 der Bitte nachkam, diese dem Zentralarchiv für die Geschichte des jüdischen Volkes in Jerusalem zu übergeben.” Von den Parteigenossen waren Theodor Balk, Bruno Frei, Günter Ruschin und Dr. Leo Zuckermann Mitglieder der ,, Menorah“ , ebenso prominente Intellektuelle wie Paul Westheim und Eduard Weinfeld, sowie die zwei österreichischen Atomphysikerinnen Dr. Gertrud Kurz und Dr. Marietta Blau.” Letztere fand auf Empfehlun Albert Einsteins in Mexiko Aufnahme. Keine Mitglieder, doch Mitgestalter des kulturellen Programmes waren die Österreicher Dr. Leo Katz mit Vorträgen und Charles Rooner mit zahlreichen Rezitationsabenden, sowie Carl Alwin, Ruth Schoenthal, Luise Rooner, Albrecht Viktor Blum, Leo Deutsch, Brigitte Chatel (verh. Alexander), Margarita Maris und Steffie Spira; von den Deutschen Dr. Paul Mayer und Günther Ruschin. Zu erwähnen ist auch ein Dikussionsabend im Oktober 1942 zum Thema „Über Deutsche und Juden“, zu dem Nahum Goldmann und Stephen I. Wise (Rabbiner) aus New York angereist kamen. Unter den Gästen befand sich u.a. Egon Erwin Kisch. Die „‚Menorah“ sollte nur wenige Jahre aktiv sein. Die Rückkehrer nach Europa brauchten sie nicht mehr, und das Interesse an der Aufrechterhaltung einer jüdischen Vereinigung war nicht stark genug, um während des langsamen Integrationsprozesses in das tägliche Leben im Aufnahmeland wirksam zu bleiben. Die jüngere Generation ging ihre eigenen Wege. Etliche verließen Mexiko zu Studienzwecken. Wenn sie überhaupt zurückkehrten, teilten sie 43