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Gerhard Scheit Musik zu retten Die Spuren der vom Nationalsozialismus vertriebenen Musiker und Musikerinnen zu finden, ist meist schwer. Die ausübenden sind „fahrende Gesellen“ , die oft von einem Engagement zum nächsten ziehen — und in einem weitläufigen Musikbetrieb, wie etwa dem der USA, verlieren sie sich nicht selten im dichten Netz der Opern- und Konzertstätten. Mexiko aber nimmt hier als Exilland eine besondere Stellung ein, wodurch sich auch die Arbeit der Musiker und Musikerinnen aus Österreich und Deutschland leichter rekonstruieren läßt: einerseits war das Musikleben von vornherein kleiner dimensioniert — begrenzt durch die vorhandenen Möglichkeiten eines im Vergleich zu England oder den USA armen Landes; andererseits werden die Impulse besonders deutlich sichtbar, die von den ins Exil getriebenen Künstlern und Künstlerinnen für das Exilland ausgegangen sind. Und die Impulse waren hier besonders groß - ja vielleicht haben nirgendwo sonst die Exilierten größeren Einfluß auf das Musikleben gehabt als in Mexiko. Besonders eindrucksvoll wird dies durch das Wirken von Carl Alwin bestätigt. In Königsberg 1891 geboren, hatte Alwin bei Engelbert Humperdinck und Richard Strauss studiert; seit 1920 war er an der Wiener Staatsoper als Dirigent tätig — und hier dirigierte er auch am 11. März 1938 die letzte Vorstellung vor dem „Anschluß“. Nachdem er Ende 1940 nach Mexiko gelangte, wurde er hier vom Gründungskomitee der Opera de México beauftragt, ein Opernensemble mit vorwiegend mexikanischen Künstlern zu schaffen. Bis dahin gab es in Mexiko kein ständiges Opernorchester. Alwin, der durch seine langjährige Arbeit an der Wiener Staatsoper große Erfahrung und ein umfangreiches Repertoire besaß, bildete nun ein solches Ensemble heran und ermöglichte schließlich, daß Opern wie die ‘Zauberflöte’, die “Verkaufte Braut’ und ‘Salome’ zum ersten Mal in diesem Land aufgeführt werden konnten. Dabei zeigt Alwins vielfältige Tätigkeit eben auch, wie eng der mexikanische Musikbetrieb mit dem speziellen der österreichischen und deutschen Exilanten verknüpft war: So trat Alwin ebenso bei musikalischen Veranstaltungen des Heinrich Heine-Klubs auf; mit dem von ihm geleiteten Kammerorchester studierte er hierfiir etwa Werke des Deutschspaniers Rodolfo Halffter und des Osterreichers Marcel Rubin ein. Alwin starb mit nur 54 Jahren im Oktober 1945 in México D.F. Bei seinem Begräbnis am 16. Oktober auf dem Panteon Jardin spielte die Banda de la Marina den Trauermarsch von Chopin; am Grab sprachen für den Heinrich Heine-Klub Egon Erwin Kisch, für die österreichische Exilorganisation ARAM Bruno Frei und für die Musikwelt Mexikos José Avila. Den Nachruf fiir Austria Libre schrieb Marcel Rubin. Der Komponist Rubin war selbst aus Österreich vertrieben worden, auf dem Weg ins Exil hatte er sich der Kommunistischen Partei Österreichs angeschlossen. Mit diesem Schritt mag zusammenhängen, daß in seinem Nekrolog für Alwin die Musikerpersönlichkeit des Verstorbenen gegenüber dem forcierten österreichischem Patriotismus etwas zu kurz kommt: Österreich hat einen bedeutenden Musiker und einen ergebenen, aktiven Bürger verloren. [...| Noch am Tage vor seinem Tode sprach der Schwerkranke von den Plänen seiner Rückkehr in das befreite Österreich, von der Herrlichkeit einer Bruckner-Symphonie, die er eben im Radio gehört hatte, von der Zukunft der Musik im neuen Wien. Wie der Nachrufende mit einem Ausblick auf die Rückkehr nach Österreich endet als wär’s das Paradies, so läßt er auch das Leben des Verstorbenen nichtetwa mitder Jugend und der musikalischen Ausbildung in Deutschland beginnen, sondern mit seiner Wandlung zum Österreicher — mit seinem Engagement an die Wiener Staatsoper: „Carl Alwin lernte in dieser Zeit die Menschen, die Kultur und die Landschaft Österreichs innig lieben, und er, der gebürtige Königsberger, wurde schließlich Österreicher, nicht nur der Staatsbürgerschaft, sondern auch dem Wesen nach.“ Rubins Nachruf macht die Dialektik dieses Patriotismus deutlich — das österreichische Wesen. kommt nämlich erst im Moment des Verlustes von Österreich zu sich: In diesen schweren Zeiten, in denen jeder Einzelne mit Taten zu beweisen hatte, wo er stand, wuchs der Musiker Alwin zum aktiven österreichischen Patrioten empor und damit zu einem Mitkämpfer in dem großen Befreiungskrieg der Menschheit. [...] Und er wußte noch etwas anderes: [...] daB man ein wahrhafter Künstler unserer Zeit nur sein kann, wenn man ein wahrhafter Freund seines Volkes ist [...] Bedeutet dies jedoch nicht umgekehrt, daß wer nicht zum Patrioten heranwächst, kein Mitkämpfer im großen Befreiungskrieg der Menschheit ist? Dieselbe Tendenz zeigt sich auch in Rubins Artikel über „Beethoven und Österreich“, die mit der These schließt: ,, Ware Beethoven in Bonn geblieben oder statt nach Wien nach London gefahren, er hätte auch dann erschütternde Kunstwerke geschaffen. Doch es wäre eine andere Musik geworden, nicht die, die wir kennen und lieben und die, auch wenn sie der ganzen Welt gehört, österreichische Musik ist." Der Begriff der österreichischen Nation ist — so legen es Rubins Kritiken nahe — vor allem ein musikgeschichtlicher Begriff: er definiert eine musikalische Tradition, die in Wien beheimatet ist und schließt alle Musiker ein, die, woher auch immer kommend, in Wien Fuß gefaßt haben. Im Gegensatz zum herkömmlichen, als Gebär- und Zeugungszusammenhang phantasierten Nationsbegriff eröffnet er prinzipiell jedem die Möglichkeit der Assimilation. Es ist gewissermaßen die Utopie einer Nation, die hier entworfen wird - und die Musik konnte diese Utopie glaubhaft formulieren, da sie die Differenz der Nationalsprachen nicht kennt und damit eines der größten Hindernisse der Assimilation. Auf der Basis eines solchen Nationsbegriffs vermag Rubin den Nationalismus im Kunstkonzept Richard Wagners einigermaßen überzeugend zu kritisieren. So schrieb er anläßlich der Aufführungen von “Tristan und Isolde’ und ‘Walkiire’ in der Opera Nacional de México den Artikel ,, Wagner in unserer Zeit“. Der Wagner-Kult, den das Dritte Reich betrieb, ließ auch die größten Wagnerianer unter den aus diesem Reich Vertriebenen nachdenklich werden. Die neue Musikgeschichtsschreibung, die ein Teil der neuen Weltgeschichtsschreibung sein wird, muß auch die Frage nach der wirklichen Bedeutung Wagners stellen. Sie wird die nationalistischen (nicht nationalen) Wurzeln und Ziele seines Gesamtkunstwerks feststellen [...] Die Musikgeschichte wird daher die Rollenicht übersehen dürfen, die Wagners Werke bei der ideologischen Untermauerung des deutschen Imperialismus gespielt hat.* Als Dirigent der beiden Wagner-Opern wirkte übrigens William Steinberg, der vor 1933 als Generalmusikdirektor in Frankfurt am Main tätig war; nach seiner Vertreibung aus Deutschland gründete er zusammen mit Bronislav Hubermann das Symphonie-Orchester Palästinas, das er zwei Jahre lang leitete, ehe ihn Toscanini als Dirigent des NBC-Orchesters in die Vereinigten Staaten holte. Weniger im Verhältnis zu anderen Nationen als in dem zur Moderne zeigen sich gewisse Grenzen der Assimilierbarkeit. In Marcel Rubins Artikel zur mexikanischen Erstaufführung von Schénbergs ‘Pierrot lunaire’ unter dem Dirigenten Jascha Horenstein, die der Heinrich Heine-Klub und der mexikanische PEN-Klub anläßlich des 70. Geburtstags von Schönberg veranstalteten, wird ganz allgemein die Person des Komponisten gewürdigt, natürlich auch darauf hingewiesen, daß es sich um einen „‚gebürtigen Österreicher“ handelt und eine sachkundige Einführung in die Entwicklung der atonalen Musik geboten. Einspruch meldet Rubin nicht hier, sondern bei den gesellschaftlichen Konsequenzen der neuen Musik an: er spricht von einem „einsamen Weg“, den Schönberg gegangen sei. Die neue Gesellschaft, die sich aus der Freiheitsfront dieses Krieges entwickelt, wird wieder eine verbrüdernde weithin wirkende Musik 45