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Wiener Komponist mit jüdischer Herkunft, der an die symphonische Tradition Österreichs angeknüpft hatte und zugleich das anerkannte Vorbild der modernen Komponisten der Zweiten Wiener Schule war, eignete er sich posthum in besonderem Maß als Integrationsfigur. Als das Comité de Ayuada a Austria im Februar 1946 ein Konzert mit österreichischer Musik im Palacio de Bellas Artes zugunsten des Hilfsfonds fiir Osterreich organisierte, wurden Werke von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Wolf, Mahler und Johann Strau8 zum besten gegeben. Bei dem groBen, vom Heinrich HeineKlub veranstalteten Konzert mit dem programmatischen Titel: ,,In Deutschland verbotene Musik“, bei dem Ernst Römer das Philharmonische Orchester Mexikos leitete und Leo Deutsch einen Einführungsvortrag hielt, bildete Mahlers ‚‚Fünfte‘“ das Hauptwerk, dem die ,, Verklarte Nacht“, das spatromantische Frühwerk von Schönberg, und ein Werk von Robert Fuchs, dem Lehrer von Mahler, Hugo Wolf, Schreker und Franz Schmidt, vorangingen. Das Programm des Konzerts drückt eine bestimmte Orientierung aus: Weiter als über die Jahrhundertwende wagte man sich offenbar nicht hinaus, obwohl es doch gerade auch zeitgenössische Kompositionen waren, die von den Nazis verboten waren. Der Rezensent des Konzerts hob denn auch insbesondere die „leichtbeschwingten“ und „beglückenden“ Melodien von Fuchs hervor, während er die schweren und düster gestimmten von Mahler überging und diesen — wohl in Hinblick auf das fugenartige Finale - zum ‚„‚modernen Nachfolger von Joh. Seb. Bach“ erklärte!?. Auf der Suche nach der wahren Musik des Volkes lag die Unterhaltungsmusik offenkundig näher als die ersten drei Sätze von Mahlers Fünfter — von Schénbergs Spatwerk ganz zu schweigen. Verschiedene Aktivitäten und Artikel im Umkreis der österreichischen Exilorganisation ARAM versuchen gerade hier, der Sehnsucht nach einem neuen Österreich zum musikalischen Ausdruck zu verhelfen: In einer Ausgabe der Austria Libre vom März 1944 berichtet Maria Heim (Pseudonym für Marie Frischauf-Pappenheim) von einem Gschnasfest der ARAM — „Schrammel in Mexiko“ lautet die Unterschrift zu einem Foto, das einige Musiker in launiger Stimmung zeigt. Im Artikel selbst wird auch dem Faschingfeiern eine ernste nationale Bedeutung beigemessen: Das Gschnasfest, das die ARAM am 26.Februar durchgeführt hat, wurde zu einem alle Erwartungen übertreffenden Erfolg. [...] Die kleine österreichische Kolonie, organisiert in der ARAM, zeigte mit beispielgebender Opferfreudigkeit, daß sie die schönen Traditionen Wiens auch im fernen Mexiko würdig zu wahren weiß. |...] Die Österreicher waren ein gemütliches Volk, gutwillig, einsichtig, arbeitsam und Tebenslustig. Aber sie vertrugen niemals lange Unterdrückung und Drill [...] Politik wurde in Wien oft im Fasching und beim Tanze getrieben |...] So wird es auch heute sein. Wahrscheinlich wird auch jetzt, bei Walzermusik und preussischen Militärmärschen, manches Losungswort für den Volkskampf gegen den deutschen Unterdrücker geflüstert, manches Rendez-vous der Kämpfer verabredet, Flugblätter verteilt, und Radiomeldungen aus den alliierten Ländern, auf deren Abhören die Todesstrafe steht, als Ballgespräch weitergegeben. Ein Volk, das die Freiheit liebt, verwandelt jede Lebensäußerung in ein Kampfmittel, auch den Tanz und die Unterhaltung des Fasching. Wer genau hinhört, wird den Zweifel in der Sehnsucht nach einem guten österreichischen Volk wahrnehmen: etwa in der Vergangenheitsform, in der die Autorin die Österreicher als gemütliches, gutwillliges, einsichtiges Volk beschreibt, das niemals lange Unterdrückung und Drill vertrug; oder in dem ,,wahrscheinlich“, das sie ihren Hoffnungen über die subversiven Vorgänge im Wiener Fasching von 1944 voranstellt. Von solchen Zweifeln ist der kurz davor aus dem Londoner Zeitspiegel übernommene Artikel von Hermann Ullrich über den Wiener Fasching durchaus frei. Dafür zeigt sich hier eine problematische Seite an der nationalen Begeisterung für die heimatliche Unterhaltungsmusik — die Substantialisierung des „österreichischen Wesen“ mittels der Musik manifestiert sich in der Ausgrenzung des Jazz: [Der Walzer habe] unbestrittene Weltherrschaft errungen und eine ‘Neue Ordnung’ österreichischer Prägung eingeführt, die auch nach dem Krieg durch das Eindringen der Jazzmusik nicht ernstlich gefährdet werden konnte. Gewiss, die neuen Schreittänze wissen mehr vom Tempo und Rhythmus der Zeit und so tartzt sie auch der Österreicher, aber sie sprechen nicht zu seinem Herzen. Das kann nur der Wiener Walzer. ‘Das Volk der Tänzer und Geiger’ hat Anton Wildgans die Österreicher genannt. Wir nehmen es als Kompliment, denn Tanz und Rhythmus sind mit den letzten menschlichen Dingen verbundener, als viele ahnen. Und daß das Volk der Tänzer auch zuschlagen kann, werden die Nazis bald genug erleben.'* Trotz dieser, von der Sehnsucht nach einem massenhaften österreichischen Widerstand getragenen Ausrichtung auf die Volkstümlichkeit in der Musik, führte die moderne Musik in Mexiko durchaus kein Schattendasein. Dafür sorgten Interpreten wie Erich Kleiber oder Jascha Horenstein, die in Mexiko immer wieder als Gäste auftraten. Sie waren bekannt dafür, daß sie sich offen und konsequent für die Moderne einsetzten — und ihre Berühmtheit konnte den Mangel an Volkstümlichkeit gewissermaßen ausgleichen. Aber auch der weniger bekannte Dirigent Ernst Römer sorgte in Mexiko und hier vor allem auch innerhalb des Heinrich HeineKlubs dafür, daß die musikalische Moderne in ihrer ganzen Vielfalt zur Aufführung gelangte — soweit dies die beschränkten Möglichkeiten zuließen. Römer, 1893 in Wien geboren, hatte bei Guido Adler, Schreker und Schönberg studiert und von 1922 bis 1933 in Berlin gearbeitet, zuletzt als Direktor der Komischen Oper. Von Österreich aus war er dann 1938 nach Mexiko emigriert, wo er an der Oper wirkte und das Orchester der Radiostation XEW leitete. Seine größter Erfolg an der Oper war vermutlich die „Fledermaus“ von Johann Strauß (sie wurde 75 Mal gespielt!). Als Mitbegründer des Heinrich Heine-Klubs, für den er die musikalischen Veranstaltungen organisierte, brachte er jedoch ebenso das moderne Gegenstück der ,,Fledermaus“ zur Aufführung: die „Dreigroschenoper“ von Brecht und Weill. Sein besonderes Interesse war es, die Werke von Mahler und Schönberg, mit denen er groß geworden war, einem größeren Publikumskreis zu erschließen. Ein anderer Schönberg-Schüler, der — nicht zuletzt wegen seiner politischen Aktivitäten — etwas mehr Bekanntheit genoß und im Unterschied zu Römer zum engeren Kreis der Schüler des Meisters zählte, Hanns Eisler, hielt sich übrigens auch vorübergehend — zweimal: 1939 und 1940 — in Mexiko auf, und zwar weil er Schwierigkeiten mit seinem US-amerikanischen Visum bekam. Eisler erhielt die mexikanische Aufenthaltserlaubnis gewissermaßen wie eine Einladung vom Präsidenten Cardenas. Das Conservatorio Nacional de Musica de Mexico lud ihn darüberhinaus zu Gastvorlesungen ein, und Eisler kündigte einen Kurs über zeitgenössische Komposition an (,,Curso sobre Armonia Contemporanea a carge del Sr.Prf. Hanns Eisler“), so daß auch sein Lebensunterhalt vorerst gesichert war. Ein Eisler-Konzert fand im Palacio de Bellas Artes statt, und die größte mexianische Tageszeitung schrieb: „Mexiko öffnet seine Pforten für Hanns Eisler — Eisler wurde eingeladen mit ausdrücklicher Unterstützung von Präsident Läzaro Cärdenas.""? 47