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heuer eine er ersten literarischen Adressen, hat er ganz wesentlich das literarische Klima der Weimarer Republik und damit der literarischen Moderne schlechthin mitgestaltet. So betreute er verlegerisch beispielsweise Walter Hasenclever, Franz Blei, Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Joachim Ringelnatz, Franz Hessel, Ernst Weiss, Annette Kolb, Bruno Frank, Paul Kornfeld, Hermann Ungar, Walter Benjamin und Robert Musil. Paul Mayer war der wichtigste literarische Berater für den eher exzessiven, alkoholfreudigen Rowohlt, sozusagen der ruhende Pol im ,, Verlagschaos“. Auch bei diversen anderen Rowohlt-Projekten wirkte Mayer mit: so als Assistent der von Stefan Grossmann herausgegebenen, für das Flair der Zwanziger Jahre so typischen Zeitschrift Das Tage-Buch; als Übersetzer einiger Titel der vierzigbändigen erfolgreichen Balzac-Ausgabe oder als Mitarbeiter der zeitweise von Rowohlt verlegten Zeitschrift Die literarische Welt. Darüber hinaus konnte Mayer auch in so renommierten Blättern wie Frankfurter Zeitung, Vossische Zeitung, Prager Tageblatt Artikel veröffentlichen. Seine Vermittler-Tätigkeit setzte er einige Jahre später dann als Lektor des Exil-Verlages „El Libro Libre“ fort. Unter seiner Ägide erschienen dort einige der bedeutendsten Werke der deutschen Exilliteratur, und zwar Das siebte Kreuz von Anna Seghers, Unholdes Frankreich von Lion Feuchtwanger, Lidice von Heinrich Mann, Revolte der Heiligen von Ernst Sommer, Leutnant Bertram von Bodo Uhse, Das verlorene Manuskript von Theodor Balk, Totenjäger von Leo Katz, Die Tochter von Bruno Frank, Adel im Untergang von Ludwig Renn, Vor einem neuen Tag von F.C. Weiskopf und Marktplatz der Sensationen sowie Entdeckungen in Mexiko von Egon Erwin Kisch. Obwohl Paul Mayer an vielen führenden expressionistischen Zeitschriften (z.B. Die Aktion, Saturn, Das neue Pathos, Die weißen Blätter, Zeit-Echo, Der Friede), expressionistischen Anthologien (Fanale, Der Mistral, Verkündigung, Verse der Lebenden) mitarbeitete, gehörte er eigentlich nicht recht zu dieser revolutionären Bewegung. Das belegen die Texte in seinen beiden frühen Lyrikbänden Wunden und Wunder (1913) und Masken und Martern (1914) — dafür sind sie denn doch zu konventionell und zu wenig innovativ. Lediglich hin und wieder scheinen expressionistische Motive und Formen auf — so etwa im Gedicht /m Nachtkafe [sic!] der kleinen Stadt. Auch Paul Mayers wenige Novellen in den schmalen Bänden Die Erwekkung (1919) und Der getrübte Spiegel (1924) sind literarisch kaum von Belang. Dagegen vermag sein 1944 bei „El Libro Libre“ erschienener Gedichtband Exil durchaus zu überzeugen, ja er ist ein beeindruckendes, ergreifenes Zeugnis vom Leben und Leiden im Exil. Mayers Kollegen in Mexiko schätzten seine Lyrik - so schreibt Egon Erwin Kisch in einer Rezension des Bandes, 54. daß er „vielen als der formenreichste und gefühlvollste"? Lyriker galt. Und Anna Seghers hatte bei einer Veranstaltung über Mayers Gedichte gesagt, sie seien „‚voll Schwermut und voll geschliffenem Witz in echt Heineschem Sinne"*. Gewisse Einflüsse durch die unpathetische, realitätsnahe, satirische „Gebrauchslyrik“ eines Tucholsky, Mehring oder Erich Kästner aus den Zwanziger Jahren lassen sich im Gedichtband Exil nicht verkennen, was ihm keinesfalls zum Nachteil gereicht. Der Band enthält vierzig Gedichte, die in fünf Gruppen eingeteilt sind. Den Auftakt bildet - im Sinne eines Mottos — das Gedicht Den Toten der antifaschistischen Kämpfe, worin Mayer fragt, ob es angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen überhaupt noch angebracht sei, zu dichten, was er jedoch schließlich bejaht, und zwar um die Erinnerung an die Taten und Leiden der Verfolgten wachzuhalten. Es folgt die erste Gruppe „Den Völkern Europas“ mit Widmungsgedichten an die vom Nationalsozialismus heimgesuchten Länder, deren Schönheiten Mayer zunächst besingt und dann den dort von den Nazis verübten Greueln kontrastiert. Wir Juden zeugt vom Widerstandsgeist der Juden und Deutschland von Mayers ungebrochener Liebe zur Heimat trotz seiner Vertreibung und des dort herrschenden nationalsozialistischen Ungeistes: Was schert es uns, wie sie die Welt verteilen, Daß ein Diktator sich die Welt gewinnt. Wir dulden weiter, wandern und verweilen. Das Wunder aller Wunder ist: Wir sind. (Aus: Wir Juden) Die Gedichte im zweiten Block ‚‚Mexikanische Silhouetten“ befassen sich mit Mayers Exil-Gast-Land, verarbeiten Impressionen und Erlebnisse in Mexiko. In der dritten Gruppe „Gestalten“ schließlich kommen spezifische Exil-Erfahrungen in Mexiko wie in Europa zur Sprache. Das Gedicht Sprachlehrer z.B. zeigt eindringlich, wie die Sprache das einzige ist, was dem Emigranten nicht genommen werden kann: Die Heimat schwand, der Ruhm, das Vaterland, Du Einzige bist einzig uns geblieben. Eindrucksvoll auch die Gruppe ‚‚Totentafel“ mit den Gedenkgedichten u.a. auf Ernst Weiss, Franz Hessel, Walter Benjamin — Opfer des Nationalsozialismus, die sich auf der Flucht im Exil umbrachten (Benjamin, Weiss) oder an Entkräftung starben (Hessel). In der letzten Rubrik „Ausklang“ überzeugen noch diverse Gedichte, wie Zukunftsmusik und Es gibt ein Wort über Deutschland als eine zweite deutsche Republik und als neues Vaterland nach dem Sieg über den Nationalsozialismus. Der Band endet mit der Aufforderung an die Deutschen (im Gedicht Ihr müßt es tun!), sich selbst des Tyrannen Hitler zu entledigen — ein Wunsch, der sich bekanntlich nicht erfiillte: Ihr müßt es tun. Nicht Russen, Angelsachsen, Die andern Völker, die im Hasse glühn. Ihr müßt es tun. Seid Eurer Pflicht gewachsen. Pflanzt Ihr die Freiheit: allen wird sie blühn. Des dritten Reichs Geschmeiß müßt Ihr zertreten. Von den Tyrannen bleibe keine Spur. Ihr müßt es tun. Ob Bürger, ob Proleten, Handwerker, Bauern, Kumpels von der Ruhr. MENORAH V EINLADUNG THEATER und REZITATIONSABEND aus Werken von ~ PAUL MAYER DONNERSTAG, 15, MAERZ, 20 Uhr 30 —NICHT MITTWOCH. MENDELSSOHN SAAL VEN. CARRANZA 21, I. STOCK Programm umstchend Eintrite 2, — und 4. — Pesos Ave. Yucatan 15 Tel. 11-07-08 KARTENVERKAUF: Buero der Menorah, Libreria: Internacional, Sonora 204 The Rose Flower Shop; Sonora 204 La Rica Hoja, Motolinfa 19 Café Victoria, Plaza Popocatépetl und an der ABENDKASSE Anmerkungen Th. B. Schumann 1. In einigen der „üblichen“ Lexika - so: Paul Raabe: Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Stuttgart: Metzler 1985, 320-322; Herbert A. Strauss, Werner Röder (Hg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945. Miinchen, New York, Paris, London: K.G. Saur 1983, Volume IJ, Part 2: L-Z, 792; Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon. Bern: Francke 31986, X. Band, Sp. 649/50; Manfred Durzak (Hg.): Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Stuttgart: Reclam 1973, 80, 179, 561 — ist Paul Mayer jeweils ein eher kurzes Stichwort gewidmet. Einzig bei Wolfgang KieBling (Exil in Lateinamerika. Leipzig: Reclam 21984) und Fritz Pohle (Das mexikanische Exil. Stuttgart: Metzler 1986) wird er etwas ausfiihrlicher behandelt. 2 Die 1982 in Stuttgart (Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz) erschienene ReprintAusgabe dieses Gedichtbandes mit einem informativen Nachwort von Peter Engel ist der einzige im Buchhandel greifbare Titel Mayers. 3 Demokratische Post, 15.11. 1944. 4 Freies Deutschland, 15.2. 1942.