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Geist noch lange andauern wird?“ Die Antwort, die Anna Seghers der selbstgestellten Frage gibt, weist auf das Unsinnige der Trennung von Kunst und Politik; hier wird die ureigenste innere Natur zum theoretischen Bekenntnis. „Die Bewußtbarmachung der Wirklichkeit. durch die Kunst umfaßt alle Gebiete des Lebens.‘ Jede Trennung zwischen Politischem und Unpolitischem ist, so gesehen, sinnlos. „Der Künstler hat immer eingegriffen... Die Kunst hat bei dem antiken Weltbild geholfen, und bei dem christlichen und bei dem der Reformation. Sie hat die Weltanschauung des Bürgers bewußt gemacht und wieder in Frage gestellt. Sie wird auch bei der Zerstörung des Faschismus und bei der Befreiung der Länder und der Gehirne mitschreiben und mitmalen.“ Das ist es, was Anna Seghers nie aufgehört hat zu tun. Mit ihren Büchern hilft sie, die Gehirne von falschen Gedanken, die Herzen von falschen Gefühlen zu befreien. Anna Seghers erzählt, und wer in den Bann ihrer Erzählung gerät, wird angezogen und umerzogen. Denn sie versteht es, die Worte so zu setzen, daß aus ihnen mehr ausströmt, als in ihnen drin zu sein scheint. Das ist, weil noch ein Stück von ihrem großen, gütigen, warmen, menschlichen Herzen drin steckt. Ein geschultes Herz sozusagen, ein Herz, das weiß, worum es geht. Als ich Anna Seghers an einem heißen Samstag in Prag traf, fragte ich sie, wie das so üblich ist, was sie mache. Sie antwortete mit der naiven Treffsicherheit, die nur Kinder und Genies aufbringen: ‚Ich mache nur noch Frieden — es gibt ja sonst nichts.“ Sie kam gerade von einer Sitzung des Weltfriedensrates. DOW Akt. Nr. 20126/1 12 Brief Anna Seghers’ an Bruno Frei „Mexico, D.F., 5. Januar 1947“ Lieber Bruno Frei: Wie Du vor ein paar Tagen so lieb warst, und mir am Telefon ein gutes neues Jahr wünschtest, ahnte ich noch nicht, daß meine Abreise schneller kommen soll, als ich gedacht habe. Ich muß deshalb Dir und Deiner Frau und Lisa auf diesem Weg ein gutes Wiedersehen in Europa wünschen, bei einer glücklichen und nützlichen Arbeit. Ich fahre jetzt ab und kommt hoffentlich irgendwann vernünftig daheim an. Ich zweifle nicht daran, daß wir uns wiedersehen, denn wir haben uns, wie Du Dich erinnerst, alle miteinander bei freudigen und schmerzlichen Gelegenheiten immer von neuem getroffen. Umarme beide Kinder in meinem Namen. Du und Elena, seid beide sehr herzlich gegrüßt von Eurer Anna DOW Akt. Nr. 20126/ F 2 Anna Seghers an Bruno Frei „Berlin, den 5. Juni 1957“ Lieber Bruno, hoffentlich haben unsere Freunde, die auf eine 56 kurze Delegationsreise nach Moskau fuhren, Dir Gruß und Buch überbracht. Hier waren Leute, die uns diese Adresse gaben, hoffentlich stimmt sie. Ich habe unter demselben Dach auch schon gelegen, man hat mich so lieb und gut behandelt, und ich bin ordentlich geheilt worden. Ich hoffe, Dir geht es bald ganz genauso. Wenn Du schreiben darfst, bitte schreib, wie es Dir geht und wie es in Peking war. Du bist wirklich ein sehr Dummer — halt! Ich darf ja jetzt nicht mit Dir schimpfen, wie wir es in der guten alten Zeit manchmal getan haben. Ich wiirde schrecklich gerne mit Dir schwatzen, und das ist auch der Grund, warum ich dich als Dummen bezeichne. Denn ich komme gerade von Moskau, ich war sogar bei anderen Freunden im selben Krankenhaus, wir hätten genauso ernst und lustig miteinander sprechen können, wie wir es in Adlershof getan haben. Mein lieber Bruno Frei, bitte schreib mir, was für eine Art Buch oder Zeitschrift Du gern lesen möchtest. Genier Dich nicht, mir Deine Wünsche zu sagen. Bedenke, daß auch Karl Marx gern Kriminalromane gelesen hat. Aber ich weiß ja gar nicht, ob Du nicht zu müde dazu bist. In diesem Brief habe ich so von Herzen mit Dir geredet, daß ich ganz vergaß, Dich zu fragen, wie es Dir geht, das tue ich jetzt, denn ich möchte Dich bald wiedersehen, einerlei wo. Ich arbeite.jetzt ziemlich viel, so intensiv und so viel wie ich es vor meiner Krankheit oder besser gesagt noch in Mexiko konnte, kann ich es freilich hier nicht, daran sind verschiedene Umstände schuld, aber das ist auch nicht so wichtig. Bruno Schwebel Der Herr Vorleser Wenn ich an jenen Urlaub in der Gegend der Tuxlas zurückdenke, erinnere ich mich ganz deutlich an das panische Durcheinander der Ameisen in dem hohlen Ast, als ich diesen durchbrach. An die erhabene Eleganz der Kraniche und die Putzigkeit der Strandläufer. An die Stelle, die Isidro als den besten Angelplatz bezeichnet hatte. Ich erinnere mich an den Garten von Tebanca, versunken in dieser Vielfalt wolliistiger Farben und Diifte. Ich sehe den Vulkan, der manchmal diister zwischen Sturmwolken aufragte und sich andere Male mit heiteren Sonnenflecken sehen ließ, die sich langsam im Rhythmus der starken Brise an den Berghängen bewegten. Und im Rauschen der Winde unter den Vordächern, wo der Tabak zum Trocknen hängt, erinnere ich mich, daß mir auf aufdringliche Art eingeflüstert wurde, ich solle mich doch zu den Stammtischrunden der Hiesigen gesellen und zuhören. Er wurde El Flaco genannt und war ein richtiger Geschichtenhamsterer, der jeden Versuch eines anderen, den Mund zu öffnen, maschinengewehrgleich sofort unterbrach. Niemand konnte so wie er von seiner Scholle erzählen. Erkannte Was wichtig ist, nicht wahr, das ist das zusammen durchlebte Leben, der Weg, den man zusammen geht, unsere Kameradschaft, mit er ich Dich umarme und Dir schnell gute Besserung wünsche. Deine (Anna Seghers) Unter Briefkopf: Deutscher Schriftstellerverband. - DÖW Akt Nr. 20126/J 1 sie ja auch wie seine Westentasche, mit der tiefen Liebe desjenigen,der von ihr aufgezogen riesige Gebärmutter, die nie müde wird zu geben: diese Weiden mit ich weiß nicht wieviel Stück Vieh pro Hektar und diese immerfort feuchte, satte Erde. Ich wundere mich noch heute darüber — mit Ehrerbietung — wie grüne Sprossen aus den Zaunpfählen wachsen, die entlang aller Wege stehen. Einfache Stöcke, in den Erdboden gerammt, werden zu Bäumen! Und dann diese Apichiblätter, die sich hemmungslos zu solcher Größe entfalten! Die Ceiba- und Amatebäume, mit ihren gewaltigen Wurzeln, die mittels der Kraft ihres Wachstums andere Bäume, Wände, Grundmauern emporheben! Alles in diesem ewigwährenden Grün, immerfort nach oben drängend, mit der ungestümen, unvernehmlichen Zügellosigkeit des Lebens. Auf dem Weg zum Wasserfall lag El Flacos Zigarrenfabrik, inmitten der Schatten einiger Amatebäume. Riesige Räume mit einem Gewirr von Balken und Stützpfeilern unter dem Dach, wo man die Blätter sortierte, zupfte und