OCR
ge Deportationsgefahr listig zu überstehen hin zu den spätvierziger Jahren in Israel und dem Entschluß, sich 1950 ‚‚wieder unter die Ratten dieses pestverseuchten Erdteils [= Europa] zu wagen“, womit der erste Band ausklingt. Der Leser wird auf eine im wahrsten Sinn ungewöhnliche und überraschungsreiche Reise von einem geradezu blasphemischen Ich mitgenommen, dessen wichtigste Anstrengung zunächst darin besteht, sein eigenes Überleben zu sichern. Ein Unterfangen, das auch im holländischen Exil ein nicht alltägliches Maß an Schlitzohrigkeit erforderte und die Ausbildung von nicht gerade sympathischen Eigenschaften. „Ich mußte hassen, weil ich leben wollte ...“ (Selbstporträt, 71) — lautet etwa eine jener charakterisierenden Tugenden. Um den Transporten zu entgehen, wechselt Lind, der herausfordernd Stiefel, Reithosen dunkles Hemd und das Naziabzeichen trägt (Selbstporträt, 84), seine Henker also mit ihren eigenen Attributen düpiert, seine Außenhaut, mutiert zum Arier, kauft sich einen holländischen Namen und „flüchtet“, als auch dies gefährlich wird und keine Aussicht auf ein anderes Exil besteht, vor der Gefahr der Zwangsrekrutierung als Fremdarbeiter nach Deutschland: ,,mein Weg, führte nicht über die Pyrenäen nach Spanien und nicht über Vichy-Frankreich in die Schweiz; ich scheute jetzt jeden anderen Ort als die Höhle des Löwen ...“ (SP, 103) Die Höhle des Löwens sind zunächst verschiedene Lastkähne deutscher Firmen, auf denen Lind alias Overbeek rheinauf- und abwärts sich verdingt; vor allem aber ist damit die Übernahme von Botendiensten im Luftfahrtministerium in den letzten Kriegsmonaten verbunden, eine „‚Tätigkeit“ , die nur unter Distanznahme zu allem, was einmal das Gepäck „Identität“ ausgemacht hat, möglich wird und das Ich 1945 geradezu nackt dastehen läßt: „Bei Überprüfung meiner Habe stellte ich fest, daß sie aus nichts als der bloßen Haut bestand. Alles übrige war dahin, Zionismus, Idealismus, Liebe, Haß und Sprache. Das Schlimmste — keine Sprache.“ (SP, 157) Nahaufnahme ist vielleicht der riskanteste Teil der Trilogie, insofern er schonungslos eine chaotisch-wüste Ich-Existenz auf der Folie der Jahre 1950-53 vorführt. Linds Autor-Ich geht dabei an die Grenzen des Berichtbaren und sammelt nebenher Scherben seines Lebens, Fragmente seiner Erinnerung ein. Namhafte Zeitschriften haben diesen Band - für mich ein wenig überraschend - als ironischen, clownesken und heiteren begrüßt. Natürlich ist er das auch. Blickt man jedoch genauer hin, hinter die anarchische Vagabondage quer durch Europa, die Lind nach Marseilles, Paris, Amsterdam, Wien oder Kopenhagen verschlägt, hinter sein ironisch-distanziertes Verhältnis zu ‚„‚bürgerlichen“ Sicherheiten sowie hinter seine manischverschrobene ‚Sexualakrobatik“ — „alle Frauen auf zwei annehmbaren Beinen durften sich meiner permanenten Erektion bedienen ...“ (Nahaufnahme, 61) - so überwiegen doch, denke ich, die irritierend bedrückenden Erfahrungen, die einer gehörigen Portion subversiven Energie und widerständiger Selbstzusprache 62. bedürfen. Amerys Frage nach dem ,,wieviel an Heimat“, wohl nicht zufällig das Motto zum dritten Band, hämmert in dieser Vagabondage beständig an die Schädeldecke dieses Ich, das zunächst glaubt, eine Lagererfahrung durch Amusement verdrängen zu können, das mit seiner jüdischen Identität nichts Rechtes anzufangen weiß, ebenso mit einer Vaterschaft, und dem der Zutritt zur alten Wohnung in Wien verwehrt wird (Nahaufnahme, 42), gleichsam im Sinn einer nochmaligen, endgültigen Vernichtung des kindheitlich-heimatlichen Erinnerungsraumes. Scheiternde Schreibversuche (Nahaufnahme, 63f.), beginnende Zweifel am sprachlichen Zuhause, die sich zu einer Wahrnehmung der Nichtzugehörigkeit, einer existentiellen Obdachlosigkeit, verfestigen (Nahaufnahme, 94f.) deuten die tiefere Dramatik scheinbar verspielt wirkender Sätze an, die da lauten: „„Die Freiheit des Bohe&mien ist die Hölle.“ (Nahaufnahme, 61) oder: „Dieses Herumreisen und Herumvögeln mußte aufhören ..“ (Nahaufnahme, 140). Selbstverständlich hört weder das eine noch das andere auf, und letztlich ist das auch gut so, — nicht nur für Lind. Andernfalls hätten wir wohl nicht den dritten Band Im Gegenwind, der über die thematische Kontinuität hinaus durchaus eigenständige Akzente auch in erzählerischer Hinsicht setzt. Bewußter und sichtbarer als in den vorhergehenden Bänden verknüpft Lind in Gegenwind die fortwährende höllische wie attraktiv herausfordernde Vagabondage, das Material der einzelnen Episoden (Zeitraum 1954-68), mit programmatischen Reflexionen über jenes weite Feld, das unter „‚Identität“ firmiert, um für sich die Zuschreibung „‚kosmopolitisch“ zu beanspruchen, die ihm als schützende Nische vor Vereinnahmungen und Sprungbrett für die zahlreichen Erkundungen, „Entdeckungsreisen in die Außenwelt“ (Im Gegenwind, 14), gilt. Und es gelingt ihm, die durchaus zentrifugalen Schichten und Episoden des Erinnerten, diese zum Flüchtigen, zum Fragment neigenden Erfahrungen doch so miteinander zu verklammern, daß daraus auch eine komplex geschichtete Erzählung und nicht nur eine Aufund Abarbeitung präsenter, verborgener und erinnerter Erfahrungen wird. Vermutlich hat daran der Entschluß, sich in London niederzulassen — oder besser gesagt: einzunisten - einen gewichtigen Anteil. Nicht daß ihm London ein bequemes Bett bereitet hätte; aber es ist doch der Bauch dieser Metropole, der den schelmigen und abgehetzten Vaganten fast vorurteilslos aufnimmt, einen ganz anderen Atem verströmt, der in der Folge auch auf seinen Text überspringt. Gehen diesem Vaganten-Ich zwar die Kaffeehauser als ,,verlorenes Paradies“ ab, so findet es Entschädigung nicht nur im puritanischen „Saufen an der Bar“ (Im Gegenwind, 33), sondern auch im erstmaligen Finden eines halbwegs befriedigenden Jobs in der Wiener Library (Im Gegenwind, 44f.). Und es findet sie in der zentralen, von Anfang an konfliktüberladenen und gerade darum so faszinierenden Beziehung seines Lebens schlechthin, die ihm nebenher die schillernde Welt des Londoner Exils und seiner intellektuell-politischen Zirkel aufschließt und maßgeblich zur Festigung seines Selbstverständnisses als ,,linker outsider“ beiträgt, als ketzerischer Querdenker und Querschreiber, gleich ob sich an Eric Hobsbawm reibend oder an Erich Fried (Im Gegenwind, 79f.), an jüdischen Riten, an der Shoa, der Psychoanalyse, am Pazifismus, an Israel oder Vietnam, — und zuletzt an der eigenen schriftstellerischen Vita, die ohne dieses London, dann auch ohne die New York-Erfahrung, ohne diese Distanz zum Deutschen und dem (gelegentlich nachwirkenden, aber bereits kühl abgehakten und verbuchten Bruch zur einst gemütlicheren, österreichisch-jüdischen Sprach- und Kulturwelt), in dieser Form wohl nicht zustandegekommen wäre. Daß sich Jakov Lind mit dieser Trilogie einen unübersehbaren Rang im Spektrum der Exilaufarbeitung und deren erzählerischen Gestaltung erschrieben hat, steht außer Streit, selbst wenn sie zu einem sehr späten Zeitpunkt kommt und eine mitunter anstrengende Zuneigung abverlangt. Doch je länger man als LeserIn im Text bleibt, umso eher wird man diese anarchische, kauzige und ausgestoßene ,,Kreatur“ aufnehmen als eine liebenswürdige Schöpfung, als ein Geschenk, mit dem man fast nicht mehr gerechnet hätte. Denn dieser Trilogie gelingt, was letztlich nur überzeugenden Texten anhaftet, sie auszeichnet: den Leser nicht nur mitzunehmen, sondern ihn aus jeder bloß aufnehmenden, konsumierenden Haltung aufzurütteln, ihn zugleich zu verstören, Einsprüche zu provozieren und mit einem eigentümlichen Humor zu verführen. Manche Stelle hätte man sich im ersten Augenblick anders entwickelt, beschrieben oder erfahren gewünscht. Genau dies wäre freilich verfehlt, und Lind ist auch dafür zu schätzen, daß er die intrikaten Verhältnisse, die irritierenden Regungen und Reaktionen nirgendwo um einer besseren Lesbarkeit, um einer schlagenderen Sinnhaftigkeit und Logik willen auflöst und damit einebnet. Er führt vielmehr mit seiner Trilogie vor, daß Exil-Literatur vor allem Literatur sein muß und nicht unwesentlich von Beschädigungen, Verlusten, Verfremdungen, Unebenheiten lebt und in ihren erzählerischen Mitteln frei ist und frei sein muß. Mir ist dies umso mehr bewußt geworden, als ich zeitgleich zu Lind auch einen anderen, hier nur zu nennenden, eindringlichen und doch im Sprachlichen wie von der Struktur her höchst verschiedenen autobiographischen Exiltext gelesen habe, Edgar Hilsenraths Ruben Jablonski (1997); — doch davon (vielleicht) ein anderes Mal. Primus-Heinz Kucher Jakov Lind: Selbstporträt. Aus dem Englischen von J. Lind und Günther Danehl. 194 S. Jakov Lind: Nahaufnahme. Aus dem Englischen von J. Lind und G. Danehl. 156 S. Jakov Lind: Im Gegenwind. Aus dem Englischen übersetzt von Jacqueline Csuss und J. Lind. 215 S. Alle drei Bände sind in der von Ursula Seeber herausgegebenen ‚Österreichischen Exilbibliothek“ des Picus Verlages, Wien, im FrühJahr und Herbst 1997 erschienen.